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„Aus dieser schönen Stadt hatte man uns einst vertrieben“, denkt sich Gerda Eisler nur, als sie im Jahr 2000 vom Schlossberg auf die Dächer der Häuser von Graz schaut. Sie und ihr Mann sind auf Besuch und hören neben sich ein junges Paar auf Hebräisch sagen: „Jetzt sind wir schon so weit herumgekommen, aber diese Stadt ist wirklich die schönste von allen“. (S. 11, Prolog). Eisler lässt Wehmut anklingen, aber auch die Weigerung, sich unversöhnlich zu zeigen. Gerda Eisler-Engler, 1927 als Kind jüdischer Eltern in Graz geboren, lebt heute in Köln. Ihr Mann, mit dem sie und der 1953 geborene Sohn Michael 1969 von Israel dorthin aus beruflichen Gründen gezogen waren, starb 2003. Ihre Geschichte ist einerseits exemplarisch für die aus rassistischen Gründen vertriebenen österreichischen Juden: Viele steirische jüdische Familien kamen aus den östlichen Gegenden der Monarchie und hatten sich integriert. Andererseits sind viele Details der Familie ungewöhnlich. Die Eltern von Gerda, seit 1913 in Graz, beschlossen bereits 1933, nach Palästina auszuwandern. Sehr bunt, aus der Sicht des Kindes, ist die Schilderung dieser Zeit. Die Eltern sprachen nicht Hebräisch, blieben „fremd“. Die Familie zog im Jahr 1936 zurück nach Graz. Die nächste „Emigration“ war 1939 Vertreibung. Mit dem Schiff von Wien aus auf der Donau und bis Haifa werden sie gebracht, die Briten machen die Ankunft der unliebsamen „Zuwanderer“ schwierig. Eisler erzählt vom Krieg, die Italiener bombardierten Tel Aviv. Seither wird in dem Land, das heute Israel ist, kein Wohnhaus ohne Bunker gebaut. „Dieses Wissen um das Unfassbare prägt den Alltag in Israel bis heute“, sagt sie über die ab 1945 bekannt gewordene Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus. Eisler privat: sie wird Modedesignerin, ist mit 21 Jahren selbstständig, nennt sich sozialdemokratisch und nicht-religiös, will nicht in der Opferrolle der Eltern verharren. Ihr Leben - erste Heirat, Tod des Mannes im Krieg 1948, zweite Heirat mit dem Bruder des ersten Mannes — wird dezent und sachlich erzählt. Die „Wende“ kommt 1969, als aus einem in Europa geplanten Urlaub ein ständiger Aufenthalt in Köln wird. Es sind gute berufliche Chancen für die Eheleute. Dies aufregende Leben zu erzählen ist nicht der Platz, es sei nur auf die Zuversicht und den Mut der Hauptperson verwiesen. Die Kölner Autorin Inga Fischer lernte vor einigen Jahren Gerda kennen. In einer Kölner Schule erzählte die alte Dame als Zeitzeugin über den Nationalsozialismus. Ihr Leben aufzuschreiben, dafür fand die Remigrantin Hilfe bei Inga. Die Herausgeberin behält die Ich-Form bei, fügt aber - hilfreich - Kommentare zur Zeitgeschichte ein, kursiv gekennzeichnet, mit Anmerkungen zur einschlägigen Literatur (Beispiel Eichmann-Prozess 1960/61). Einen wesentlichen Anteil zum Verständnis der Einbindung der Grazer Familien EnglerEisler in die antisemitische Verfolgung liefert Heimo Halbrainer, der Grazer Zeithistoriker, in seinem Beitrag „Zwei bis dreimal Graz-Tel Aviv. Bereits in den ersten Zeilen des Romans lässt der Autor Peter Henisch seinen Ich-Erzähler einen Ton anschlagen, der das Gefühl vermittelt, in die Stube des Mannes eingeladen worden zu sein. Er schaut aus dem Fenster, wie er es schon in Kindheitstagen gerne getan hat. Eine Katze balanciert auf der Regenrinne des gegenüberliegenden Hauses. Er beobachtet das Tier, das ihn seit seiner Kindheit begleitet, fühlt die Spannung seines gefährlichen Unterfangens mit. Doch die Katze ist furchtlos, geschickt, und außerdem kommen Katzen ja bekanntlich, wenn sie fallen, auf allen vier Beinen auf. Die FM4-Hörerin erinnert der Titel des Romans an den Song „Bilder mit Katze“ der deutschen Band „Frittenbude“ mit dem Refrain: Du kaufst der Frau, die du liebst,/ ein Shirt von Audiolith,/ das sie auch laufend anzieht,/ weil es da draufsen nichts gibt. Auch auf dem Suchbild mit Katze, der Aussicht aus dem Fenster des Ich-Erzählers, gibt es nicht viel — jedenfalls auf den ersten Blick. In den ersten Sätzen wird mehr aufgezählt, was 70 ZWISCHENWELT nicht ist — eine Beschreibung der Straße vor dem Fenster in Negationen: Nicht steil ist sie und keine Sackgasse. Der Ich-Erzähler kennt natürlich das Ende der Straße mit dem Stoppschild davor, doch entziehen sich beide seinem Blick. Er fügt sogar hinzu, was er nicht ist: kein Autofahrer. Der Text ist eine Suche nach dem, was nicht ist, nach dem, was war oder vielleicht so war oder doch anders, denn oft kann sich der IchErzähler nicht genau erinnern. Nicht nur an weit Zurückliegendes. Er lässt uns teilhaben an seinen unsicheren Erinnerungen an romantische Sommerurlaube. Als würde er in direkter Rede laut überlegen, versucht er, sich Details ins Gedächtnis zu rufen. Welche Farbe hatte das Kleid einer Frau, die er einmal am Strand gesehen hat? Es mag irritierend sein, was das zur Sache tut, wie diese rhetorische Frage zur Geschichte beitragen soll. Doch kann argumentiert werden, dass dies keine leere rhetorische Frage ist, im Gegenteil, eine aufrichtige Frage des Ich-Erzählers an sich selbst, ein bewusstes und geniales Stilmittel, um Die Familien Silber, Engel und Eisler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (S. 121-153). Er zeigt ab 1938/39 Verfolgung, Vertreibung, „Arisierung“, Beraubung und Wege ins Exil, aber auch gescheiterte Fluchten. Er verbindet die private Erzählung von Gerda mit den allgemeinen Maßnahmen gegen Personen und Firmen, auch in Graz. Damit liefert er wertvolle Informationen zur rassistischen Politik des „Großdeutschen Reiches“. Halbrainer schildert knapp, aber verständlich den europäischen Rahmen, wodurch die individuelle Lebensgeschichte auf dem gesellschaftlichen Hintergrund noch an Farbe gewinnt. Der Rezensentin sei der Hinweis aufeine Grazer Familie erlaubt, die 1938 von Graz nach Palästina auswanderte und nach 1945 zurückkam: Rechtsanwalt Dr. Ludwig Biro widmete sich dann sehr bald den Restitutionsverfahren für jüdische Hinterbliebene. — Flucht aus Europa war schrecklich, heute ist Flucht nach Europa sicherlich mit jenen Schicksalsschlägen vergleichbar, wenn auch die Fluchtgründe andere sein mögen. Umso wichtiger ist dies Buch aus dem verdienstvollen CLIO-Verlag. Hedwig Wingler Gerda Eisler: „Alles, woran ich glaube, ist der Zufall.“ Eine Jugend in Graz und Tel Aviv. Hg. von Inga Fischer. Mit einem Beitrag von Heimo Halbrainer. Graz: CLIO 2017. 156 S. € 18,die Erzählperspektive zu etablieren, die „Suchbild mit Katze“ zu Grunde liegt. „Standen da Maiskolben oder Sonnenblumen?“, fragt der Ich-Erzähler. Er verstärkt seine Unsicherheit mit der wiederholten Verwendung des Wortes „wahrscheinlich“. Und außerdem spielt er mit dem Wort „natürlich“, fast als sei der Ich-Erzähler sich der augenscheinlichen Belanglosigkeit seiner Beschreibungen durchaus bewusst. Was er uns erzählt, ist nichts Neues, wir wissen es natürlich schon. Das erste Suchbild, mit dem der Roman eröffnet wird, ist ein Stillleben, doch verbergen sich darunter unsichtbare Ebenen, wie beim Gemälde die Schichten vom dunkelbraunen Hintergrund bis zu den weißen Spiegelungen im Wasserglas, so realistisch ausschend, als könne man die Hand ausstrecken und es von der Leinwand nehmen. Genauso verhält es sich mit dem Roman von Peter Henisch. Die Stimme des Ich-Erzählers klingt so echt, er spricht so freundschaftlich vertraut zu den LeserInnen, dass oft die Gefahr