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Gerhard M. Dienes Die Südbahn war ihr Schicksal Als in den Fünfziger-Jahren [des 19. Jahrhunderts] durch die Eröffnung der Bahn durchs Mürztal die Welt aufgetan wurde“, schildert Peter Rosegger, „als aus den gesegneten Gegenden das Korn billiger ins Land kam, wie man es da oben, stets von Mifgjahren gefährdet, bauen konnte, fanden die höchstliegenden Höfe am Alpel, daß es besser sei, die Felder zu Wiese und Wald anwachsen zu lassen. Rosegger hat diesen Prozess in seinem Roman „Jakob der Letzte“ aufgezeigt: Reagierte die Mehrzahl der Bauern negativ-resignierend oder in den Alkohol fliichtend, so war Roseggers Romanfigur Jakob Steinreuter, der Sohn „Jakobs des Letzten“, einer der wenigen mobilen Typen. Er sah im radikalen Bruch das Heil, verließ von heute auf morgen den elterlichen Hof und ging in die Ferne, in die „Neue Welt“. Die Bahn, die in das Mürztal die Welt hereinbrachte und andererseits zur Auswanderungsschiene wurde, war die Südbahn. Seit 1857 verband sie, von Wien über Graz, Marburg und Laibach nach Triest führend, den Donauraum mit der Adria. Die Eisenbahnen veränderten Zeit und Raum und gestalteten die geografischen Voraussetzungen der Wirtschaft neu. Das Reisen wurde demokratisiert, ebenso wurden die Grundvoraussetzungen für die logistische Bewältigung von Massentransporten geschaffen. Die horizontale Mobilität erhöhte sich und mit der Liberalisierung der Niederlassung wurde die Emigration zu einem Massenphänomen, das breite Bevölkerungsschichten umfasste. Die Donaumonarchie stand europaweit an der Spitze der Auswanderländer. Zwischen 1876 und 1910 wanderten mindestens fünf Millionen Menschen aus; das entspricht rund 10% der Bevölkerung. In manchen Regionen war der Prozentsatz noch viel höher. Bevorzugtes Hoffnungsziel waren die Vereinigten Staaten von Amerika. Primäre Auswanderungshäfen waren zwar Bremerhaven und Hamburg, jedoch auch Fiume/Rijeka — mit dem Siidbahnstamm durch eine Stichbahn verbunden — und Triest hatten Relevanz. In Fiume, dem größten Hafen der ungarischen Reichshälfte, setzte der spätere New Yorker Bürgermeister Fiorello La Guardia, selbst ein Kind von Emigranten, ab 1904 als Leiter der US-Konsularagentur seine Unterschrift aufrund 90.000 Auswanderungspapiere. WE In Triest, dem Endpunkt der Südbahn, stieg der „Österreichische Lloyd“ zur größten Dampfschifffahrtsgesellschaft des Mittelmeerraumes auf. Die Prosperität verdankte der »Llyod Austriaco“ — wie andere Gesellschaften auch — den Zwischendeckpassagieren. Das Agentenwesen oder besser ge„Lloyd“ erlebte vor allem im Osten der Monarchie, in Galizien und in der Bukowina, eine Hochblüte. Es schien, als ob der Schifffahrtsgesellschaft die natürliche Auswanderung nicht genügte, weswegen sie durch trügerische Werbung eine Steigerung anstrebte. Die Auswanderungsströme über Triest gingen zumeist über die Südbahn. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs verebbte die große Emigrationswelle. Im Sommer 1915 erreichte die Front das Umland von Triest. Viele verließen die Stadt. An die 10.000 Flüchtlinge „italienischer Zunge“ kamen nach Graz, so auch die Familie von Giorgio Voghera. Als „Anonimo Iriestino“ beschreibt er in seinem Buch „Il Segreto“ das Leben aufdem damals noch ganz ländlich strukturierten Rosenberg. In der Volksschule fühlte sich der Bub nicht wohl. „Ich war Städter, sie [die Mitschüler] alle Bauern.“ Er galt als Exote, war noch dazu Romane und vor allem Jude. Im Sommer 1917 kehrte Voghera mit seiner Mutter per Südbahn, damals die Transportader zum Isonzo, dem Fluss der Schlachten, nach Triest zurück: Im Verlauf dieser langen und mühsamen Reise hatte ich zum ersten Mal den Eindruck, daß der Krieg etwas Ernstes und Reales war. Unser Zug überholte mehrere Male Militärtransporte, die an die Front geschickt wurden. Die Soldaten waren in Viehwaggons zusammengepfercht und vollkommen betrunken. Sie sangen mit derart verzweiflungsvollen Stimmen, daß ich tief davon ergriffen wurde. Dezember 2017 5