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Österreich Auswandernden stand die Südbahn am Anfang einer Reise, die meist keine Wiederkehr kannte. Zunehmend waren es rassistische Gründe, vor allem der eskalierende Antisemitismus, die zur Emigration zwangen. Mit seinem Buch „Der Judenstaat“ hatte Theodor Herzl das Signal für den Weg in das „gelobte Land“ gegeben. Der Hafen von Triest wurde zum „Ior Zion“. Zwischen 1926 und 1938 schifften sich hier weit über 100.000 jüdische Emigranten mit dem Ziel Palästina ein. 15. März 1938, Wien Südost-Bahnhof, wenige Tage nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland: George Eric Rowe Gedye, der das Wiener Redaktionsbüro der „New York Times“ leitete und von der Gestapo abgeschoben wurde, erinnert sich wie ein Zug nach dem anderen gefüllt wurde: Dann kamen die ersten SA-Leute ... Mit Hundepeitschen in der Hand gingen sie von Waggon zu Waggon und zwangen Männer, Frauen und Kinder wieder auszusteigen. Wie Vieh wurden diese vom Bahnsteig weg ins Gefängnis getrieben. Die Zurückbleibenden wurden dann in aller Öffentlichkeit ihrer Wertsachen beraubt. Für den jüdischen Grazer Rechtsanwalt Ludwig Birö wurde 1938 die Südbahn, über die er 1916 an die Front ging, abermals zur Schicksalsader. Mit seiner Familie wartete er in Graz auf den Schnellzug Wien-Itiest: Wir wussten, dass überall Gestapoleute und Geheimdetektive herumlungerten, und hatten guten Grund, alle weiteren Komplikationen zu vermeiden. ... Der Zug lief ein, in einer halben Stunde, um genau 1 Uhr, sollte er abgehen. ... Eine Minute nach der anderen verging: sieben, sechs, fünf Minuten vor 1 Uhr... wir konnten es nicht erwarten, das erste Knirschen der Räder zu hören. War der Zug einmal in Bewegung, so konnte uns nicht mehr viel geschehen; es gab nur mehr einen ganz kurzen Aufenthalt an der Grenze [zu Jugoslawien], dann waren wir in Sicherheit.“ Birö emigrierte nach Palästina, ebenso wie Ari Rath, der spätere Chefredakteur der „Jerusalem Post“: Ich bin zwei, drei Stunden am Gang des Zuges gestanden, der mich . vom Wiener Südbahnhof mit anderen jüdischen Kindern nach Triest gebracht hat. Ich hatte über den Semmering bis weit in die Steiermark hinein Tränen in den Augen. Denn das war nicht nur ein krasser Abschied von meiner Familie, sondern einer von meiner ganzen Welt, in der ich gelebt hatte. Und das mit 13 Jahren und zehn Monaten. In Triest gab es damals ein italienisches Komitee zur Unterstützung von jüdischen Emigranten. Mit der Adaption der NS-Rassengesetze durch Mussolini im November 1938 erreichte die Triester Juden schließlich das Schicksal derer, für die die Stadt Transitstation gewesen war. 1943, nach dem Zusammenbruch des Faschismus in Italien, wurde Triest Teil der nationalsozialistischen „Operationszone Küstenland“. In der chemaligen Reisschälfabrik, der Risiera di San Sabba, entstand ein Internierungs- und Vernichtungslager vor allem für Partisanen und Widerstandskämpfer. Für aus rassistischen Gründen Inhaftierte war die Risiera primär Durchgangslager für die per Bahn erfolgte Deportation in die Gaskammern von Auschwitz und Birkenau. Für Triest bedeutete die Vernichtung jüdischen Lebens eine entscheidende und nicht wiedergutzumachende Verarmung an wirtschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Energien. 6 _ ZWISCHENWELT Nach 1945 änderten sich die Emigrationsströme vielfach. Für tausende Flüchtlinge aus Istrien, Dalmatien und Fiume/Rijeka wurde der beim Triester Südbahnhof gelegene chemalige Kornspeicher „Silos“ zu einer primitiven Massennotunterkunft und das oft für Jahre. Zu einer Schiene der Hoffnung wurde 1948 die Südbahn für Milan Turkovie. Der 1939 in Zagreb geborene Fagottist, Dirigent und Buchautor war mit seiner Mutter auf der Flucht aus Jugoslawien. Der Zug hatte Maribor/Marburg erreicht: Plötzlich standen zwei Milizsoldaten in unserem Abteil und forderten uns barsch zum Mitkommen auf. Sie führten uns in ein Gebäude mit vergitterten Fenstern. ... Die Beamten der Geheimpolizei waren weniger barsch als die Milizionäre. Ihr Ton war von leiser und eiskalter Höflichkeit. Sie sagten, aus Zagreb sei eine Mitteilung gekommen, dass unsere Papiere nicht in Ordnung seien. Es folgte eine Leibesvisitation, bei der sogar die Absätze meiner Schuhe abgenommen wurden. Mutter wurde im Nebenraum ausführlich verhört. Das Resultat: alles in Ordnung. Der Offizier ließ wissen, wir können wieder gehen.“ Woraufhin die Mutter energisch wurde: „Was heisst, jetzt können wir gehen? Der Zug nach Österreich ist weg! Und der nächste geht morgen. Sie werden uns gefälligst — auf ihre Kosten — ein Hotel besorgen!“ Die verdutzten Staatspolizisten taten dies folgsam. ... Meine Mutter hatte mit der Kenntnis der slawischen Seele genau das Richtige getan: Mit forschem Auftreten und dem dezidierten Beweis der intellektuellen Überlegenheit konnte man im alten Jugoslawien mit Glück sogar Geheimpolizisten zähmen.° Am nächsten Tag ging es dann endlich in Richtung Österreich. Rund eineinhalb Jahrzehnte später wurde die Südbahn zur Gastarbeiterroute. Für die Arbeitsemigranten aus der Türkei, aus Jugoslawien und Griechenland waren zunächst die Eisenbahnlinien von Bedeutung. Während der langen Monate der Arbeit im fremden Land hatten die Gastarbeiter die Bahnhöfe immer wieder aufgesucht. Sie waren für sie zu besonderen Orten geworden: Hier hatten ihre ersten Schritte in eine ungewisse Zukunft begonnen und hierher kamen sie auch später regelmäßig, um Landsleute zu treffen und den begehrten Nachrichten aus der Heimat zu lauschen und an diese zu denken, die tausende Schienenkilometern in südlicher Richtung lag. In den Gastländern war ihre Aufnahme alles andere als begeistert gewesen. Es herrschte keine Willkommenskultur wie im September 2015, als auf den Bahnhöfen der Südstrecken erschöpfte Menschen, die nach der lebensgefährlichen Überquerung des Meeres und Fußmärschen auf der Balkanroute durch Österreich in Richtung Deutschland unterwegs waren. Die Signale waren auf „Grün“ gestellt, jetzt stehen sie auf „Rot“. Gerhard Michael Dienes, geb. 1953 in Graz, Studium Geschichte, Historische Grundwissenschaften und Kunstgeschichte in Graz, ab 1980 Ausstellungskurator im Stadtmuseum Graz, 1990-2004 dessen Leiter, ab 2005 im Universalmuseum Joanneum (Direktion! Auslandskulturprojekte), 1985-1994 Lehrbeauftragter an der Grazer Karl Franzens-Universität, 2006-2011 Mitglied des Kulturforderbeirates des Landes Steiermark, Beirat der Internationalen Otto Gross Gesellschaft, lebt in Graz. Kurator von über 90 Ausstellungen im In- und Ausland, darunter „Die Gesetze des Vaters. Hans und Otto Gross, Sigmund Freud und Franz Kafka“ (Graz 2003), ,, The Laws Of The Father“ (London, Sigmund Freud Museum, 2008)