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Emigrationsländer bieten, gedankenlos mit größter Selbstverständlichkeit entgegen. Aus den verschlüsselten Briefen des Leopold von Andrian wissen wir, dass Exilanten vor der politischen Polizei auf der Hut sein mussten“. Obwohl er sich selbst als kämpferisch und zornig schildert, war Frieds Situation zu fragil, um selbst politisch tätig zu werden. Er hatte bescheidene Ziele, bei denen er auch erfolgreich war: das Sammeln kleiner Gruppen von Freunden deutscher Kultur jenseits des Nazismus, Neugründung und Vorsitz der „Schlaraffia Paulista“. Sogar eine Schlaraffen-Kolonie in Rio konnte durch seine Initiative gegründet werden. Frieds letzte Reise nach Europa Die angesprochene letzte Reise in das Europa der Nachkriegszeit wurde mehrfach angezweifelt, wird aber durch gewichtige Dokumente gestützt, so durch die Notiz von R. Bossmann“', Frieds Brief an die Schlaraffia in Worms von 1956, Robert Frieds Rede zum 20. Todestag seines Vaters, mehrere Gedichte Frieds. Und durch Frieds Bericht über den kulturellen Aspekt seiner Europareise.* Hier ein Ausschnitt: Von Brasilien nach Mitteleuropa reisen, heist nicht nur das Grün der deutschen Wiesen suchen, das dem Auge wohltut und das Herz beschwingt, will nicht nur unsere Blicke auf dunkle Tannen und Schnee tragende Gipfel richten, die wir so lange schmerzlich entbehrten, eine solche Reise ist zugleich erfüllt von der Sehnsucht nach der alten Kultur, nach Domen, Bildern, Musik, die wir zu verehren begannen, als wir anfıngen, Sinn für Schönheit zu entwickeln, die uns ständige Begleiter und Anlass zu geistigem Ausruhen und freudigen Erhebungen der Seele waren in den längst entschwundenen Jahren unbedrohten Lebens. Dieses Jahr 1956 ist trotz aller und vor allen Gelegenheiten zu erhebenden Feiertagen: Heine- und Schumann-Festen in Deutschland, Wiener, Stuttgarter, Wiesbadener, Salzburger Festspielwochen, Edinburgher, Londoner Festspielen und nicht zuletzt Shakespeare Spielen in Stratford, das Jahr eines Genius: Mozart. Mozart in großen und großartigen Feiern, Mozart in den seltenen, für das internationale Publikum weniger bedeutenden, aber für die Besucher darum nicht weniger wichtigen Veranstaltungen kleiner Städte. Wir erleben Mozart in Wien, Salzburg, Garmisch, Bamberg und London. In Bamberg hörten wir im Kerzen beleuchteten Kaisersaal der neuen Residenz vom fränkischen Landesorchester die Ouvertüre zum Schauspieldirektor. Im folgenden Gedicht (Werkverzeichnis 63) endet seine Auseinandersetzung mit dem Sterben in einer Liebeserklärung an seine Frau Trude: Wenn ich den Morgen nicht erwachen sollte, ihr fändet wächsern bleich und weich mein Kinn, dass sich so straffie, wenn der Welt ich grollte, glaubt nur, dass ich nicht gern gestorben bin. Wo etwas schön war, hat mein Aug‘ getrunken, wo etwas groß war, hat mein Herz gestaunt, ich hatte nichts zu prahlen und zu prunken: Mich machte da zu sein schon froh gelaunt. Doch ich sah auch die Gräuel zweier Kriege, den Tod, der mordend schlich ums Krankenbett, die kalten Herzen und die große Lüge: Du, meine Liebe, warst mein Amulett. Am 2.6.1958 starb Carl Fried in Säo Paulo. Die Tilgung aus der medizinischen Literatur war nicht rückgängig zu machen. - Obwohl er ein weniger bedeutender Dichter war, bewirken seine Verse, dass der Lebensweg dieses Exilanten nicht vergessen wird. Wolfgang G.H. Schmitt-Buxbaum zur Entstehung dieses Aufsatzes: 10 Jahre nachdem Carl Fried 1929 Worms verlassen hatte, kam mein Vater H.G. Schmitt an dieses Krankenhaus als Oberarzt des Chirurgen für die Strahlentherapie, zugleich als Oberarzt des Internisten für die Röntgendiagnostik. „Studieren Sie sorgfältig die alten Befunde und Protokolle von Fried“, sagten ihm seine Chefs ohne Beachtung der zwischenzeitlichen ideologischen Indoktrinierung. Schmitt hat später nie einen Versuch gemacht, etwas über Frieds Verbleib herauszufinden; seine Befürchtungen waren übermächtig, dass dieser nicht mehr am Leben wäre. Ich wurde 1945 in Worms am Rhein geboren. Meine Eltern wohnten dort, wo früher Frieds gewohnt hatten. — Ich konnte Medizin in Mainz, Wien und Würzburg studieren. Tätig war ich unter anderem an den Unis in Heidelberg, Tübingen, Köln und Herne/Bochum. Zuletzt wieder in Würzburg, am Juliusspital in unmittelbarer Nähe zu dem Ort, wo Röntgen die nach ihm benannten Strahlen entdeckt hat. Was die Kreativität betriffi, hat mein Vater bei Fried und ich wiederum bei ihm viel gelernt. Bei 100 Veröffentlichungen war ich federführend oder beteiligt und habe 2004 einen deutsch- österreichischen Erfinderpreis gewonnen. Es gibt acht Enkelkinder der Frieds, die mit ihren Familien in den USA und in Brasilien leben. Ihre Hilfe hat diesen Bericht ermöglicht. Danken möchte ich für die sehr freundliche und fachkundige Hilfe: Dr. Hiltrud Häntzschel, Rudolf Blaschke, Dr. Birgid Weller, Werner Tiltz, Peter Henrichs und Hildegard Neubauer. Anmerkungen 1 Schmitt, W.G.H.: Carl Fried, Dichter und bekannter Arzt am Klinikum Worms. Heimatjahrbuch Worms 2016. Worms Verlag Nov. 2015 2 Heidenhain, L., C. Fried: Röntgenstrahlung und Entzündung. Archiv für klinische Chirurgie. 133 (1924) S. 624-665 (Bereits vorgetragen Deu. Ges. Chirurgie 26.04.1924). Wichtige Arbeit unter fast 100 Arbeiten von C. Fried 3 „Schlaraffia“. Diese wurde unter der Naziherrschaft zur Selbstauflösung aufgefordert. 2016 wurden in Worms Gedenksteine für vier Mitglieder, auch für Carl Fried, eingeweiht und öffentlich bekannt, dass die Solidarität mit den jüdischen Mitgliedern damals nicht so war, wie es den Grundsätzen der Gesellschaft entsprochen hätte. 4 Bönnen, Gerold: Das Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs auf dem neuen jüdischen Friedhof in Worms und seine Bedeutung im regionalen Vergleich. Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 32 (2007) S. 367-396 5 Fried, Carl (1941). „Fundamentos de Radium e Roentgentherapia“. Edicoes Melhoramentos. Brazil, 6 Court-Brown, M., Doll, R.: 1957 mrc—report on leucaemia and aplastic anaemia in patients irradiated for ancylosing spondylitis, journal of radiological protection, Großbritannien. 7 Seegenschmiedt, M.H., Hans-Bruno Makoski, Klaus-Ruediger Trott, Luther W. Brady (Hg.): Radiotherapy for Non-Malignant Disorders. Contemporary Concepts and Clinical Results. Springer, Berlin/Heidelberg 2007 8 In Prag war Schlaraffia als eine Gemeinschaft von Schauspielern entstanden. — Lieder von Fried werden bis heute gesungen (z.B. ein Hymne auf Rio). Dezember 2017 29