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Lebensjahr war ihre Erzichung von der französischen Sprache und Lebensart geprägt. Danach besuchte sie das Mädchenlyzeum bis zur Mittleren Reife, das unter deutscher Leitung stand. Nach ihrer vorübergehenden Tätigkeit als Erzieherin begann sie 1918 mit einem Gesangs- und Schauspielstudium, war doch ihr größter Wunsch, eine Laufbahn als Opernsängerin oder Schauspielerin einzuschlagen. Bereits als Schülerin wirkte sie bei Laienaufführungen mit. Doch aus der ersehnten Bühnenkarriere wurde nichts. Ihr Buch Von Johanna zu Jane, das vermutlich die erste Phase der Laufbahn entweder der von ihr verehrten Schauspielerin Elisabeth Bergner oder der sich darin wiedererkennenden Lia Rosen mit psychologischer Kunst nachzeichnet, erinnert noch an ihre Liebe zum Theater, wenn es dort heißt: „Wollen Sie auch zum Theater?“ ... „Ja. Beide wollen wir zum Theater. Brennend gern. Seit wir denken können, ist es unser heifester Wunsch!“ Als Autorin debütierte sie 1925, zu dieser Zeit in Magdeburg lebend. Bevor sie mit ihrem Roman Die Katrin wird Soldat schlagartig berühmt wurde, beeindruckte sie mit Beiträgen wie Lichter der Jugend, Kleine Reisegeschichten, Die Berceuse in der renommierten Vossischen Zeitung. Später kamen Veröffentlichungen im Prager Tagblatt, im Wiener Magazin, in der Salzburger Wacht, in Die Bühne und in der Pariser Tageszeitung hinzu. Im Mai 1933 gehörte Die Katrin wird Soldat zu den ersten Werken, die die Nazis verbrannten. Anfang der 30er Jahre reiste Adrienne Thomas viel und verließ Deutschland 1933 endgültig. Über die Schweiz zog es sie nach Wien. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich flüchtete sie über mehrere europäische Länder nach Frankreich, wo sie mit Ausbruch des 2. Weltkriegs im Frauenlager Gurs interniert wurde. Gemeinsam mit Toni Kesten und Hilde Walter gelang ihr die Flucht aus dem Lager. Sie fanden zunächst in dem Pyrenäendorf Sauvagnon Unterschlupf: Während ich in den Pyrenäen Soldatenwäsche wusch, dachte ich nur an mein Manuskript, stellte in Gedanken einzelne Kapitel um, änderte, fügte neue hinzu, machte mit seifigen Händen und geschwollenen Gelenken Notizen über die Gespräche meiner Soldaten und meiner bäuerlichen Freunde, an deren Leben man viele Wochen teilnahm, als gehöre man dazu. Schreiben war für Adrienne Thomas Hoffnung und Halt, identitätsstiftend und stabilisierend, gleichsam eine Art Heimatersatz, wie Sabine Rohlfs in ihrem Artikel Zuhause war ich nur noch an irgend einem Schreibtisch ausführt. Mit Hilfe eines von Hermann Kesten vermittelten EmergencyVisums und eines Schiffstickets, das die Witwe Arthur Schnitzlers, Olga, und ein in New York lebender Arzt bezahlt hatten, konnte Adrienne Thomas in die USA emigrieren. Dem Exil dort fühlte sie sich gewachsen, wie sie rückblickend vermerkte: Torberg hat einmal gesagt, es waren 12 verlorene Jahre. Für mich waren es 12 gewonnene Jahre. Ich war überall gern. Ich hab mich überall zurechtgefunden. Ich hab das Beste daraus gemacht, hab mich nicht unterkriegen lassen. In den Vereinigten Staaten war Adrienne Thomas Sekretärin der europäischen Niederlassung der Free World Association, einem Sammelbecken der wichtigsten, vor dem Nationalsozialismus geflohenen demokratischen Persönlichkeiten. Erfolgreich arbeitete sie als Journalistin beim Free World Magazine, dessen Debatten und Diskussionen sich in Ein Fenster am East River wiederfinden. Mit diesem Roman wollte sie den Lesern die Grausamkeiten 38 ZWISCHENWELT nationalsozialistischer Herrschaft und das Leben in der Emigration nahebringen. Dem Aufbau gab sie im Dezember 1940 ein Interview, das unter dem Titel Zine Frau von der Grenze erschien. Dort führte sie unter dem Eindruck des kriegerischen Geschehens in Europa aus: Ich glaube nicht an Barbarei. Ich glaube vielmehr, dass England diesen Krieg gewinnen muss, um die Welt wieder auf ihre ethische Norm zurückzubringen: die Menschenrechte ... Ihre selbstverständliche Großartigkeit lebt, auch wenn sie ... in fast ganz Europa zertreten ist. Das Herz Amerikas und sein freier aufwärtsstrebender Geist bewahren diese Idee der Menschenrechte als ein kostbares Gut auf“ — ein unüberhörbares Plädoyer für die Universalität der Menschenrechte. In New York lernte sie Julius Deutsch, Kommandant des im Februaraufstand von 1934 zerschlagenen Republikanischen Schutzbundes in Osterreich und General der Spanischen Republik von 1936 bis 1939, kennen und lieben: ,,aus einer fliichtigen Begegnung wurde eine Gemeinschaft fürs Leben“. Auf seinen Wunsch hin kehrte sie 1947 nach Wien zurück: Nach Europa zurückzugehen, wäre mir nicht im Träume eingefallen, wenn ich es nicht hätte um Julla‘s Willen hätte tun müssen ... Er wollte nach Hause. Ich wäre seinetwegen natürlich auch zu den Hottentotten gegangen. (vielleicht sogar lieber). Hier führte sie einen politisch-literarischen Salon, dessen Gästeliste sich wie ein Who is who des Nachkriegsösterreichs liest. 1949 bis 1951 ist Adrienne Thomas Vorstandsmitglied des österreichischen PEN-Clubs und von 1955 bis 1957 dank der Überredungskunst Franz Theodor Csokors noch einmal. 1950 werden ihre Erzählungen unter dem Titel Da und dort veröffentlicht, dessen letzter Text ein Bekenntnis zur Parteilichkeit des Künstlers, zu seiner politischen Verantwortung und eine Verurteilung des Opportunismus enthält: (D)ie Pflicht einer klaren Entscheidung obliegt dem Künstler wohl zu allererst und mehr als irgendeinem anderen Menschen. Denn niemand braucht so sehr wie er für sein Schaffen und für seine Entwicklung die Freiheit. Sie ist sein Nährboden. Nimm dem Künstler die Freiheit, und er wird eine dahinwelkende Schnittblume. Nach dem Tod ihres Mannes 1968 kümmerte sie sich um seinen Nachlass und korrigierte öffentlich einen ihren Mann verletzenden Nachruf in den Salzburger Nachrichten. Für ihr humanistisches Engagement wurde ihr 1973 den Professortitel verlichen. Ihre besondere Hingabe und Leidenschaft galt dem Genre des Kinderund Jugendbuchs, war sie doch der Meinung, dass man vielleicht noch zu Kindern reden könne, mit den Erwachsenen hätte sie keine gemeinsame Sprache mehr. Aus ihrer Feder stammen die Jugendbücher: Viktoria; Andrea; Ein Hund ging verloren; Markusplatz um vier. Während ihrer letzten Jahre lebte sie zurückgezogen in WienGrinzing, wo sie am 7.11.1980 starb. In einem Nachruf würdigte Ernst Schönwiese die Verstorbene: Als wir ihren 80. Geburtstag feierten, las Kammerschauspielerin Paula Wessely eine ihrer jüngsten Arbeiten, eine aus tiefem Erleben entstandene, psychologisch höchst aufschlußreiche Meditation über National-Hymnen und revolutionäre Kampflieder. Ob sie die Arbeit abschließen konnte, wissen wir nicht, aber ... (s)ie zeigt noch einmal die innerlich immer ganz wache Frau und Schriftstellerin, wie wir sie alle gekannt haben, und klingt, als spräche die Katrin, ihr alter ego, ein letztesmal zu uns.