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Verwendete Literatur Adrienne Thomas: Die Katrin wird Soldat und Anderes aus Lothringen, St. Ingbert 2008 Adrienne Thomas: Reisen Sie ab, Mademoiselle!, Frankfurt/M. 1985 Tamäs Kisantal Adrienne Thomas: Von Johanna zu Jane. Amsterdam 1939 Gabriele Kreis: Frauen im Exil. Darmstadt 1988 Christa Giirtler, Sigrid Schmid-Bortenschläger: Erfolg und Verfolgung. Salzburg 2002 Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch. Band 23, Autobiografie und wissenschaftliche Biografik. München 2005 früher Holocaust-Texte in Ungarn Aus dem Englischen von Marianne Windsperger Gemeinhin wird in der Holocaust-Forschung angenommen, dass nach dem Krieg in Ungarn eine lange Phase des Schweigens über den Völkermord an den Juden herrschte. Literaturgeschichtlich wurden die 1970er Jahre als Wendepunkt interpretiert, erstmals erschienen wegweisende Texte wie z.B. Sorstalansäg (dt.: Roman eines Schicksallosen, 1975) des späteren Nobelpreisträgers Imre Kertesz. Nimmt man jedoch jene Bücher in den Blick, die unmittelbar nach dem Krieg publiziert wurden, wird deutlich, wie eindimensional dieses Narrativ ist. Der britische Historiker David Cesarani spricht in seiner Studie über den Holocaust-Diskurs in England über ein Narrativ der kollektiven Amnesie, das er auch als „Mythos des Schweigens“ bezeichnet (Cesarani, 2012). Auch in der ungarischen Geschichtserzählung erweist sich dieser Mythos bis heute als geschichtsprägend, die Realität ist jedoch eine andere. Gerade in den ersten Jahren nach dem Krieg waren Bücher über den Holocaust — ob nun von literarischen Laien oder von Schriftstellern verfasst, von Überlebenden der Konzentrationslager und von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern, sowie journalistische Arbeiten und auch einige belletristische und dramatische Texte — extrem weit verbreitet und schr populär, schnell gerieten sie jedoch in Vergessenheit, fielen aus dem Buchmarkt und wurden nicht wieder aufgelegt. Wenn man einen Blick in eine ebenfalls vergessene Bibliographie aus den späten 1950er Jahren wirft, wird die beeindruckend große Zahl an publizierten Texten deutlich, aufgelistet sind mehr als 200 Texte, die zwischen 1945 und 1948 publiziert wurden - in den Jahren 1949 bis 1958 sind es nur mehr 40 (Geyer, 1958). In meinem Essay werde ich nach den Merkmalen und Besonderheiten dieser ersten Texte fragen. Ich suche sowohl nach Gründen für ihre unmittelbare Popularität und ihr schnelles, komplettes Verschwinden. Mein sozialgeschichtlicher Zugang erlaubt es mir, die Texte in der Kulturproduktion dieser Zeit zu verorten, nach den ökonomischen Bedingungen des Buchmarktes selbst zu fragen und den Blick auf die Rolle der Literaturkritik und der Rezeption in den Medien zu lenken. Alle diese Felder stehen in lebhaften Wechselbeziehungen zueinander. Aus kulturhistorischer Perspektive analysiere ich Lesegewohnheiten und das Leseverhalten und versuche Erklärungen für die unmittelbare Popularität und das rasche Verschwinden dieser Bücher herauszuarbeiten. (Zur Kulturgeschichte des Lesens vgl. Chartier, 1995). Interessant und zugleich verwunderlich scheint auf den ersten Blick die Kluft zwischen der großen Popularität und der harschen Ablehnung durch die Literaturkritik. Zeitgenössische Beiträge über den Buchmarkt im Nachkriegsungarn beleuchten das literarische Phänomen der „Literatur der Erfahrung“ auf unterschiedliche Weise: Einerseits wurde betont, dass sich unter diesen Texten keine wirklichen literarischen Meisterwerke finden und dass bekannte und kanonisierte AutorInnen sich dieser Thematik nicht annahmen. Andererseits wurde in der Literaturkritik die Popularität der Bücher über Konzentrationslager und Zwangsarbeit kontroversiell geschen. Um so unterschiedliche Texte wie Memoiren, autobiographische, nonfiktionale und fiktionale Texte als Genre fassbar zu machen und zu markieren, wurde der Begriff „Literatur der Erfahrung“ bzw. „Roman der Erfahrung“ eingeführt. Mit anderen Worten wurde die „Literatur/der Roman der Erfahrung“ zu einer Kategorie, um jene Texte zu benennen, die wir heute mit dem Begriff „Holocaust-Literatur“ bezeichnen könnten. Zugleich entziehen sich diese Begriffe einer exakten Definition, denn sie wurden sehr unterschiedlich verwendet, als theoretische Konzepte, als Genrekategorien und als Marketinglabel. Aber in jedem dieser Diskurse war der Begriff negativ konnotiert: „Literatur der Erfahrung“ wurde zumeist verwendet, um diese Bücher als „unwahr“ und als wertlose Literatur zu deklarieren, als zweitklassige Werke, als persönliche Vergangenheitsbewältigung und direkter Ausdruck der leidvollen Erfahrung der Opfer. Zum Beispiel wurden Texte der „Literatur der Erfahrung“ in einem Artikel in einer der meist verbreiteten Zeitungen, Magyar Nemzet, satirisch als Ausdruck „persönliche[r] Erfahrungen auf Papier“ bezeichnet, „die Freud, Leid oder Genugtuung ausschließlich für den Schreibenden selbst mit sich bringen“ (Antal, 1946). Obwohl dies wohl cher als eine ironische Bemerkung und nicht so schr als Definition des Genres gedacht war, zeigt sich hier doch der ambivalente Charakter der Rezeption. Der linke Literaturkritiker Janos Czibor benannte das Phänomen in einem Essay über den Buchmarkt im Jahr 1945 sensationslüstern als eines der gefährlichsten des literarischen Feldes: „Sobald unsere Druckerpressen wieder arbeiteten, wurde der Buchmarkt von diesen ‚Meisterwerken über Deportation und Internierung‘ überschwemmit, so dass heute — in einer Zeit der Papierknappheit — zu überlegen ist, ob hier nicht Restriktionen dieses Thema betreffend einzuführen sind.“ (Czibor, 1945, 67). Die Bezeichnung „Literatur der Erfahrung“ als Kategorie schien zunächst in Werbungen und Ankündigungen für diese Bücher auf, wurde aber auch hier schon als Selbstbezeichnung ex negativo verwendet. In den Ankiindigungstexten und Empfehlungen dieser Dezember 2017 39