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Auschwitz wäre die Strafe der Barbaren, des barbarischen Deutschland, des barbarischen Nazismus, für die jüdische Kultur, d.h. die Bestrafung der Kühnheit, so wie der Schiffbruch des Odysseus die Strafe eines barbarischen Gottes für die Kühnheit des Menschen ist. Ich dachte an diese Form des deutschen Antisemitismus, der vor allem gegen die intellektuelle Kühnheit der Juden wie Freud, Marx und alle Neuerer in allen Bereichen gerichtet war. Das ist das, was ein gewisses deutsches Philistertum störte, mehr noch als Blut oder Rasse Sie heben hervor, dass die Ethik der Übersetzung dem Charakter Primo Levis entspricht, seinem Anspruch auf Genauigkeit, seiner Aufmerksamkeit für andere und seiner Bescheidenheit, aber ist nicht auch denkbar, dass dieser Übersetzertätigkeit eine größere Notwendigkeit zugrundeliegt? Bei einem Autor, von dem Primo Levi sich deutlich abgrenzt, dessen Werk aber ebenfalls von der Bemühung geprägt ist, von der Vernichtung zu berichten, nämlich bei Paul Celan, spielt die Frage der Übersetzung eine ähnlich gewichtige Rolle (dazu insbesondere das Kapitel „Le traducteur“ [Der Übersetzer], das Jean Bollack in Poesie contre poesie [Dichtung gegen Dichtung] diesem Thema gewidmet had): Es geht um eine wirkliche Neuaufladung mit Bedeutung, eine Neuübersetzung des Deutschen innerhalb des Deutschen. Wenngleich dieses Vorhaben ohne Beziehung zu dem Levis ist, könnte man nicht doch in der Erfahrung des Übersetzers, der sich der Fremdheit einer anderen Sprache stellt, um eine Neuaufladung mit Bedeutung vorzunehmen, eine ähnliche Tätigkeit sehen wie im Übermitteln einer unvergleichbaren Erfahrung an „die Außenwelt“? Sie haben in Ihren neueren sprachwissenchaftlichen Arbeiten hervorgehoben, dass man nicht Wort für Wort übersetzt, sondern Text für Text und Korpus für Korpus; ist es dann nicht die Aufgabe des Korpus der klassischen Texte, ein dem Überlebenden und der Außenwelt gemeinsamer Korpus zu sein, dessen Überschreibung durch den Zeugen eine Übermittlung ermöglicht? Ist die Übersetzungsarbeit damit nicht als besondere Form einer Arbeit zu verstehen, die in jeder Sprache am Werk ist und durch die Vernichtung in Frage gestellt wird? Ich denke an das, was Georges Perec in einem grundlegenden Artikel über Robert Antelmes Werk schreibt, dem er zunächst den Titel Robert Antelme ou la naissance de la litterature [Robert Antelme oder die Geburt der Literatur] geben wollte, der dann erstmals in Heft 8 von Partisans (Januar-Februar 1963) erschien und in dem er Die Gattung Mensch als Musterbeispiel für die Literatur präsentiert: Das Schreiben scheint heute zunehmend dem Glauben verpflichtet, der wahre Zweck bestünde darin zu verbergen und nicht zu enthüllen. Überall und immer werden wir aufgefordert, das Geheimnis, das Unerklärliche zu verspüren. Das Unbeschreibliche ist ein Wert, das Unsagbare ein Dogma. |...] Es ist unmittelbarer und beruhigender, die heutige Welt als etwas Unbeherrschbares zu sehen. Aber es gibt diese Welt. Und diese berüchtigte, sogenannte kafkaeske Welt, die man nur allzu gerne für eine geniale Vorausahnung der großen Katastrophen unserer modernen Zeit hält, erklärt diese nicht: Man schließt daraus auf ewige Verdammnis, auf metaphysische Angst, auf ein auf dem menschlichen Dasein lastendes Verbot. Doch darum geht es überhaupt nicht. (...) In Die Gattung Mensch führt an zentraler Stelle der Wille zu sprechen und gehört zu werden, zu erforschen und kennenzulernen, zu einem unbegrenzten Vertrauen in die Sprache und in die Schrift, ein Vertrauen, das jeder Literatur zu Grunde liegt, selbst wenn es in Die Gattung Mensch auf Grund der ihm eigenen Zielsetzung und auf Grund des Status, den unsere Kultur den sogenannten ‚Augenzeugenberichten‘ zuweist, nicht ganz gelingt an dieses Vertrauen anzuknüpfen. Denn das Ausdrücken des nicht 44 ZWISCHENWELT Auszudrückenden, das ja bereits dessen Überwindung bedeutet, darin besteht die Leistung der Sprache, die, indem sie eine Brücke baut zwischen uns und der Welt, jene grundlegende Beziehung herstellt zwischen Individuum und Geschichte, aus der unsere Freiheit erwächst (...) So entsteht Literatur, wenn in der Sprache und durch sie jene ganz und gar nicht offensichtliche und unmittelbare Verwandlung beginnt, die einem Individuum zum Bewusstwerden verhilfi, indem es die Welt beschreibt und sich an andere wendet. Durch seine Bewegung, seine Methode und seinen Inhalt bestimmt Die Gattung Mensch die Wahrheit der Literatur und die Wahrheit der Welt. FR: Sie erinnern zu Recht an diesen Artikel Perecs, der für jedes Nachdenken über das literarische Zeugnis von größter Bedeutung ist: Er weist unangebrachte Kategorien zurück, wie den Gegensatz zwischen „Fiktion“ und Nicht-Fiktion, die gängige Trennung von Ethik und Ästhetik und die diversen Vorurteile, die lange verhindert haben, Levi als richtigen Schriftsteller anzuerkennen. Seine Prosaübersetzungen eines Werks von Lévi-Strauss und von Kafkas Schloß sind in meinen Augen Auftragsarbeiten.* Der Frage der Übersetzung würde ich eher von der Lyrik her nachgehen. Ein in nur geringer Auflage veröffentlichtes Bändchen, Zosteria di Brema von 1975, geht der ersten Ausgabe seines einzigen Gedichtbandes Ad ora incerta voraus, der 1984 drei Jahre vor seinem Tod erscheint. Dieser Band enthält einen Abschnitt mit Übersetzungen, von denen Levi in einer Anmerkung sagt, sie seien für ihn „eher musikalisch als philologisch, cher Vergnügungen als professionelle Arbeit“. Ich weiß nicht, warum sie in der zweiten Ausgabe, die nach seinem Tod erschien, nicht enthalten sind. Vermutlich hatte man Levis Wunsch nicht begriffen, sie in sein poetisches Werk zu integrieren, so wenig wie man auch ihren Wert als öffentliche Würdigung erkannt hat. Aufden ersten Blick könnte man meinen, dass es sich bei diesen undatierten Übersetzungen um Kopien von Meisterwerken handelt, die diesen huldigen. Doch zu untersuchen wäre ihr Bezug zu seinem Werk; zwei der Übersetzungen sind aus dem Englischen (Spens und Kipling), acht von Heine - genau wie Levi ein Jude der Aufklärung. Davon wiederum stammen sieben aus dem Abschnitt Die Heimkehr im Buch der Lieder. Ich sche hier unwillkürlich, wie sich die Gestalt des Odysseus abzeichnet, nicht zuletzt deshalb, weil der erste Vers des Gedichtes Approdo (Felice 'uomo che ha raggiunto il porto) eine wörtliche Übersetzung des Anfangs eines Gedichtes aus Heines Nordsee ist (IL,9: Glücklich der Mann, der den Hafen erreicht hat), welches wiederum Du Bellays bekanntes Sonett aufnimmt. Heines Gegenwart ist umso prägender, als Levis erster Gedichtband geheimnisvollerweise L’osteria di Brema heißt, Titel, der demselben Gedicht, /m Hafen, entlehnt ist: „Im guten Ratskeller zu Bremen“ (Z. 4). Meines Wissens ist dieser Zusammenhang noch nicht hergestellt worden: Levi aber nennt damit bereits an der Schwelle seiner ersten Gedichte indirekt Heine sein Vorbild in der Dichtkunst’. Bekanntlich wurden Heines Bücher von den Nazis verbrannt, und zwar nicht nur weil er Jude war, sondern weil seine Ästhetik, ob ihres Humors, ihrer Feinheit und der ihr innewohnenden Ablehnung der „lievitazione retorica“, der stilistischen Pomphaftigkeit, dem NS-Programm des großspurigen Pathos zuwiderlief. Und Heine, darin Prophet wider Willen, erklärte 1817, dafß man, wo man Bücher verbrenne, am Ende auch Menschen verbrennt. Für Levi, den Mann der Aufklärung nach Auschwitz, haben die vordergründigen Themen des Unübersetzbaren und des Unsagbaren gewiss nicht die Feierlichkeit, die sie für die französische, im