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habe. Ein Text besteht nicht aus Wörtern, bzw. müssen seine Wörter zumindest als minimale Übergänge angesehen werden. Der aus der hermeneutischen Tradition stammende Begriff des ‚Übergangs‘ lässt sich heute im Rahmen einer sich um Interpretation bemühenden Korpuslinguistik neu definieren. Ein Text schreibt sich, indem er seine eigenen vorherigen Übergänge neu schreibt, wie auch Übergänge aus anderen Texten, gleichgültig in welcher Sprache. Ich will damit sagen, dass Entstehung, Übersetzung und Interpretation dieselben Typen der Verwandlung zwischen Übergängen ins Spiel bringen oder zumindest in einem einheitlichen theoretischen und methodologischen Rahmen beschrieben werden können. Technisch mag das Anwendungen in der informationswissenschaftlichen Forschung finden - im Rahmen eines europäischen Projektes haben wir so ein System entwickelt, das automatisch rassistische Webseiten auf Französisch, Englisch und Deutsch erkennt. Worauf es hier ankommt, ist die Bezugnahme der Übersetzung auf die Vernichtung: Die Übersetzung kann den Wahnsinn des Wir-und-die Andern vermeiden, sie ist entweder kosmopolitisch oder sie ist gar nicht. Während des Küchendienstes in Auschwitz hatte die Übersetzung von Dante für einen jungen Elsässer den Wert einer sich der Barbarei widersetzenden Handlung. Übersetzer sind widerspenstig, sie legen Zeugnis ab, oft sind sie Sprachrohre. Salman Rushdie lebt noch, aber zwei seiner Übersetzer sind bereits erstochen worden. Zwar weist die LT], die Lingua Tertii Imperii, jene von Victor Klemperer philologisch beschriebene Jargon des Dritten Reichs, eine für eine Floskelsprache relativ ausgearbeitete ‚Poetik‘ auf, aber diese monolinguale Sprache merzte sogar die lateinischen Wurzeln aus (dieser Purismus findet sich im Übrigen auch bei Heidegger, der so weit geht, die Übersetzung der griechischen Philosophie ins Lateinische zu beklagen) — diese lexikalische Gleichschaltung begann mit den Eigennamen, insbesondere denen der Juden. Die LTT hatte als einzige Funktion ritualisierte Formeln durchzusetzen, stand somit im Gegensatz zu einer Kultursprache, also einer Sprache, die nur im Korpus anderer Sprachen, ja anderer Kulturen begriffen werden kann. Ein Buch übersetzen ist gewissermaßen das Gegenteil des Verbrennens. Das reinigende Feuer kennen wir nur zu gut: Davon sprach Heidegger während des „symbolischen Verbrennungsakts von Schmutz- und Schundliteratur“ am 24. Juni 1933, als er seinen Feuerspruch (GA 16, S. 131) aufsagte, der so beginnt: „Flamme, künde uns, leuchte uns, zeig uns den Weg, auf dem es kein Zurück gibt.“”* Diese obskurantische „Aufklärung“ oder eher brandstiftende „Erleuchtung“ verdient es, heute im Licht folgender Worte Levis bedacht zu werden: „der Weg der Unterwerfung und des Einverständnisses (...) ist ohne Zurück“ (1981, S. 215, Hervorhebung von mir). Jeder weiß, dass Iroja nicht wiedergefunden worden wäre, wenn Homer nicht von seinem Untergang erzählt hätte. Um gegen das Vergessen zu kämpfen, um die Rückkehr neuer Schrecken zu bannen, löst sich das literarische Zeugnis von der einfachen Zeugenaussage, um eine erzieherische Mission zu übernehmen. Primo Levi nennt in einem späten Nachwort zu Ist das ein Mensch? die Voraussetzungen für diese Mission: „Die Richter seid ihr.“?° Durch den erzicherischen Auftrag, den es verfolgt, versteht es das literarische Zeugnis zu einem klassischen zu werden, das über die biographischen Umstände hinausgeht, ja über die Momente und Orte hinaus, in denen es entstand. Schließlich will es auch jenseits der Sprache verstanden werden, in der er verfasst worden 48 _ ZWISCHENWELT ist. Indem es das Vertrauen in die Vernunft der universellen Jury, die die Leser darstellen, aufrecht erhält, bewahrt dieses Zeugnis das Ideal der Aufklärung, das dem Begriff der Menschenrechte zu Grunde liegt. In seiner modernen Form entspringt der Zeugenbericht der Idee der Grundrechte und vor allem der universellen — nicht jedoch göttlichen — Gerechtigkeit. Auf ihre Weise kann die Übersetzung auch gegen das Vergessen und gegen nationalistische Vorurteile kämpfen. Yoko Tawada, in Hamburg lebende Schriftstellerin und insbesondere Übersetzerin Celans ins Japanische, ist der Ansicht, dass ein Gedicht nicht vollendet ist, solange es noch nicht in alle Sprachen übersetzt wurde. Von ihren Worten ausgehend, möchte ich sagen, dass dasselbe für den Augenzeugenbericht gilt, da er sich an die ganze Menschheit richtet und so an ihrer ethischen und ästhetischen Bildung teilhat. Ihre Frage über die Klassiker führt mich dazu, die Frage der Klassik von der des gemeinsamen Korpus, des Bezugstextes zu unterscheiden. Der klassische Stil, der Levi eigen ist, zeichnet sich durch seine Beherrschung der Ausdrucksmittel aus, er ist wohlüberlegt, ohne vorhersehbar zu sein, und die Figur des Autors hält sich diskret zurück. Das Ich verschwindet: das Gefühl, von jedem Pathos befreit, ist überall gegenwärtig. Dieser Stil fordert jeden zum Nachdenken aufund wendet sich an ein breiteres Spektrum von Adressaten. Für den Gefangenen nimmt die Welt der literarischen Werke die Befreiung vorweg: Sie gegenwärtig zu erhalten hat Wert als Widerstand und bringt das zivile Leben ins Lager zurück. Sodann erlaubt sie dem Überlebenden, den Korpus zu erstellen, in dem das Werk des Augenzeugen seinen Sinn erhält. Levi hat diesen Korpus in seinem Werk Die Suche nach den Wurzeln reflektiert. Die klassischen Texte, auf die er sich oft implizit bezieht, scheinen mir somit zwei zusätzliche Funktionen zu übernehmen, die für den Autor des Augenzeugenberichts wie auch für den literarischen Raum, zu dem er Zugang findet, gleichermaßen von Bedeutung sind. Der Zeuge hat geschen, was niemand schen sollte; und der Überlebende, den diese barbarische Welt verfolgt, spürt, wie ihre Bedrohung über der unseren, zu der er nie ganz zurückfindet, schwebt. Im inneren Zwiespalt zwischen dem Zeugen und dem Überlebendem spielen die Klassiker, und vor allem die der Dichtung, eine vermittelnde Rolle. Der Gesang des Odysseus in Dantes Inferno ermöglichte es dem Zeugen im Lager, gegen die Barbarei zu kämpfen, ein Band der Verständigung mit einem jungen Gefährten herzustellen. Der Überlebende, der schreibt, wendet sich an den Leser wie auch an diesen Gefährten, mit denselben vielsagenden Erinnerungslücken: Im letzten Vers Dantes, der am Ende des Kapitels // canto d’Ulisse zitiert wird, „infin che ‚| mar fu sovra noi rinchiuso“ (bis das Meer sich wieder über uns schloß), ersetzt Primo, der Erzähler, das letzte Wort von Dantes Odysseus, richiuso (wieder geschlossen), durch eine scharfsinnige Erinnerungslücke durch rinchiuso (eingeschlossen) — so deuten die Fluten eine Einschließung an, und die ertrunkenen Gefährten stellen die Häftlinge des Lagers dar. Auch wenn Dantes Inferno hier gewissermaßen zu einer Allegorie für Auschwitz wird, so kann mit dem Inferno nicht Auschwitz begriffen werden — Auschwitz nimmt selbst dem Inferno den Sinn. Der Korpus der klassischen Texte ist kein Aufbewahrungsort, kein Pantheon, keine Galerie großer Männer. Den Klassikern bedeutet die Klassik nichts; sie widersprechen dem erstarrten Bild,