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das die Modernen von ihr gezeichnet haben, mit ihrer Kühnheit, ihrer Vielschichtigkeit, ihrer verschwenderischen Fülle, ja, auch ihrer Unfertigkeit. Orlanfo furioso ist ein solcher Text; in einem ernsten Artikel gegen die Leugner der Juden-Vernichtung zitiert Levi nicht ohne Ironie jene Verse Ariostos, die wiederum Dante parodieren: „Und wenn du nicht willst, daß dir das Wahre enthüllt werde,/ dann dreh die Geschichte in ihr Gegenteil um:/ die Griechen wurden besiegt, Troja siegte,/ und Penelope war eine Puffmutter. “7 Ein Klassiker greift andere Klassiker in verschiedenen Sprachen wieder auf und zitiert sie; von ihnen ausgehend, ihnen huldigend, schafft er Neues; so wahrt er eine Art inneren Andersseins, das zugleich Anleitung ist, wie der Klassiker in neuem Kontext immer wieder aufs Neue gelesen werden kann. Indem er Raum der Multikulturalität und Vielsprachigkeit aufstößt, erschafft er die Menschheit aus den Menschheiten. Zu unterstreichen ist die kompositorische Parallelität zwischen Kants Kosmopolitismus (Weltbürgerlichkeit) und der von Wieland so genannten Weltliteratur. Ein Wieland zögerte nicht, homme du monde mit Weltmann zu übersetzen, was dann von Goethe wieder aufgenommen wurde. Dies gipfelt in der damals positivsten Globalisierung, dem Internationalismus des Manifestes von Marx und Engels: „Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“”® Im Gegensatz zur identitären Barbarei, die sich dem Übersetzen verweigert und die Unübersetzbarkeit theoretisch festschreibt, wird dieser Raum zu dem der Kultur, die aus jeweils gesonderten, aber allgemein teilbaren Werten besteht, und zwar zuerst auf dem Umweg der Übersetzung. Diese ästhetische Dimension wird heute von einer ethischen Dimension überlagert, da sich die Zeugenschaft, indem sie Gerechtigkeit verlangt, an die ganze Menschheit wendet. Ist das ein Mensch?, Die Gattung Mensch, die Titel verweisen auf diese quälende Frage. Wenn es keinen „Zeugen für den Zeugen“ gibt, erweitert sich der lebendige Anspruch der Zeugenschaft auf die internationale Ebene. Rithy Panh, Überlebender und Autor des meisterhaften Filmes $ 21, la machine de mort khmer rouge (S 21, die Todesmaschine der roten Khmer], erklärt: „Alles verstehen, ist fast alles entschuldigen‘, sagte Primo Levi, der für mich in dieser Zeit eine Orientierung war. Aber man kann nicht alles verstehen. Doch der Versuch, es zu tun, ermöglichte es mir, die Trauerarbeit zu beginnen.” Vorbild für all jene, die die Wahrheit über die Ermordungen sagen wollen, die die Kunst der Zeugenschaft praktizieren, trifft Primo Levi heute auf Verleumder, denn seine ethische — und ich füge hinzu — seine ästhetische Statur, seine Kompromisslosigkeit, sein Wille zur Aufklärung, sein Wille, die Opfer von den Tätern zu unterscheiden, steht der Reversibilitätstheorie entgegen, derzufolge alle, selbst die Opfer, potentielle Täter sind und allein die Zufälle ihrer je persönlichen Geschichte über die etwaige Zuordnung entscheiden. Diese zugleich deterministische und relativistische "Ihese wird heute von vielen vertreten. 2013, zum Jahrestag der Befreiung, veröffentlichte der Historiker Sergio Luzzato ein umfangreiches Werk (Partigia, una storia della Resistenza, Mailand, Mondadori), in dem er vermeintlich aufdeckt, dass die Widerstandsgruppe, der Levi angehörte, zwei ihrer Mitglieder hinrichtete, weil diese von Bauern Lösegelder gefordert und damit die Gruppe in Gefahr gebracht hatten. Tatsächlich geriet die Gruppe einige Tage nach dieser Hinrichtung ins Netz einer Razzia. Diese Enthüllung sorgte für großes Aufschen. So veröffentlichte der Korrespondent der Times in Rom am 17. April 2013 einen Artikel unter dem Titel „Levi’s ‚ugly wartime secret‘ uncovered“. Luzzato entsprach damit einer in den USA florierenden journalistischen Gepflogenheit, die den Lesern posthumer Diffamierungen entgegenkommt, indem sie auf Schadenfreude setzt. Dabei steht nicht wenig auf dem Spiel: Wenn sogar Levi summarische Hinrichtungen deckt, dann besteht kaum mehr Distanz zwischen Opfern und Tätern.” Levi hat diese Hinrichtungen jedoch weder geleugnet noch zu rechtfertigen gesucht. In zweien seiner Bücher, Das periodische System (1975) und Die Untergegangenen und die Geretteten (1987), erwähnte Levi diese Episode und ihre moralischen Konsequenzen ganz ohne Umschweife. Wie viele seiner vermeintlichen Geheimnisse kam diese Episode zudem seit langem offen in seinen Gedichten zum Ausdruck. 1952 schreibt er Epigraph, in dem einer der Hingerichteten aus seinem Grab heraus das Wort ergreift in der Art antiker Grabgedichte: Der von seinen Kameraden hingerichtete Partisan bittet die Vorbeigehenden um Gehör, benennt seine Mörder und bekennt seine Schuld („Spento dai miei compagni per mia non lieve colpa“, v. 8 (Von meinen Kameraden aus nicht geringem Grunde getötet). Ohne die Bitte zu äußern, man möge ihm vergeben und für ihn beten, endet seine Rede mit dem Wunsch nach Frieden und mit dem Wunsch, der Letzte zu sein: „Senza che nuovo sangue, filtrato attraverso le zolle,/ Penetri fino a me col calore funesto/ Destando a nuova doglia quest’ossa oramai fatte pietra“ (V. 13-15) (Ohne dass die unheilvolle Warme/ neuen, in den Boden sickerenden Blutes, mich durchdringt/ In meine schon steingleichen Knochen neuen Schmerz bringt.] Seit Hiroshima verbindet Levi politische Gewalt und Gewalt gegen die Umwelt (vgl. das Gedicht La bambina de Pompei, 1978): Beide Formen beruhen aufderselben wahnsinnigen Maßlosigkeit. Im Gebirge, auf dem gleichen Pass, in dem der hingerichtete Partisane sich an die Vorbeigehenden wendet, sagt Levi über die chemaligen Partisanen, die nach einem Vierteljahrhundert wiederkehren: „Sie haben die Blockade der Deutschen gebrochen/ Dort, wo heute der Sessellift hochfahrt.“?! Doch der hingerichtete Partisan begann so: „Oh du, der du Spuren hinterlässt, den Gebirgspass überquerend/ Wie so viele, auf diesem nicht mehr einsamen Schnee [...]“”? Seitdem sind an diesem Gebirgspass, den ich nun auch überquert habe, drei Sessellifte gebaut worden. Übersetzt von Sidonie Kellerer und Rüdiger Fischer, überarbeitet von Alexander Emanuely Dieses für die deutsche Übersetzung erweiterte und überarbeitete Interview erschien erstmals 2012: „Temoigner et traduire. — Sur Ulysse a Auschwitz", entretien réalisé par Gaétan Pégny, Littérature, 166, 5. 105-118. Auch online veröffentlicht: FRANCOIS RASTIER et GAETAN PEGNY (2012) ,, Témoigner et traduire: sur Ulysse a Auschwitz“, [on-line], Volume XVII —n°3 (2012). URL: http://www. revue-texto.net/index. php ?id=3056 (eingesehen am 12.08.2014). Auszüge daraus waren bereits in der zweisprachigen Literaturzeitschrift ‚La mer gelée‘ 2009/n°6, S. 74-85) veröffentlicht worden (Übersetzung ins Deutsche von Rüdiger Fischer). Frangois Rastier ist Linguist und Semiotiker. Er arbeitete am Centre national de la recherche scientifique in Paris. 2005 wurde Dezember 2017 49