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Interessen gelten dem Sozialismus und der Literatur. Sie tritt der KSC (Kommunistickä strana Ceskoslovenska, Kommunistische Partei der Tschechoslowakei) bei und erarbeitet mit Kindern am Prager Neuen Deutschen Theater die Aufführung von Erich Kästners Pünktchen und Anton. Im Publikum sitzt mitunter der bereits nach Prag remigrierte Schriftsteller FC. Weiskopf. Kurz darauf sucht dieser den in ihrem Bürogebäude untergekommenen Malik-Verlag auf, lädt sie prompt in seine Privatwohnung ein. Die gemeinsame Kaffeerunde verlässt sie mit der Aufforderung, an seiner nach Prag verlegten Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) mitzuwirken. Obwohl sie kurze Zeit später ihre Anstellung in der Papiergroßhandlung verliert, sollte Weiskopfs unverbindlichem Angebot von einst erst 1936 eine feste Zusammenarbeit folgen. Aus der Karolinenthaler Wohnung ihrer Eltern zicht sie rasch danach aus, übersiedelt in eine winzige Mansarde in der Melantrichgasse 7 am Rande der Prager Judenstadt. Sie erkundet deren Eigenheiten, lässt sich davon begeistern. Später gedenkt sie dessen: Zu Hause sprach man selten über unsere jüdische Herkunft. Sie war selbstverständlich, so wie das Zuhause in der Prager Vorstadt. Zu ihren Fixpunkten gehören regelmäßige Literatur- und Diskussionsabende im Cafe Metro und im Bertolt-Brecht-Club. Sie trifft dort auf namhafte linke Intellektuelle und deutsche Emigranten wie Ernst Bloch, Leo Kestenberg, Rudolf Fuchs, Wieland Herzfelde oder Egon Erwin Kisch. Letzterer wohnt in ihrer Nachbarschaft und zählt zeitlebens zu ihrem engsten Freundeskreis. Sie schreibt von unzähligen Diskussionen, die mitunter auch am gemeinsamen Nachhauseweg fortgesetzt wurden.‘ Bis 1938 redigiert sie Weiskopfs 1936 in Volks-Illustrierte umbenannte AIZ sowie Svet v obrazech (Welt in Fotos/Bildern), die 1938 gegründete modifizierte tschechische Version der AIZ. Vereinzelt greift sie selbst zur Feder. Weiskopf gilt ihr dabei als anspruchsvoller und strenger, dennoch warmherziger und motivierender Lehrmeister.’ Als die Zeitung im Oktober 1938 polizeilich verboten und Weiskopf zur Flucht nach Paris veranlasst wird, übernimmt sie die Korrespondenz fiir New Masses in New York, die Internationale Literatur in Moskau und einige französische Revuen. Sie trifft ehemalige Frequentanten des Caf€ Metro und des Bertolt-Brecht-Klubs im Gebäude des „Verbandes des bildenden Künstlers Mänes“, hilft Ausreisedokumente zu organisieren.’ Im Februar 1939 erweitert Weiskopf ihr Betätigungsfeld, schickt sie als Dolmetscherin mit einem amerikanischen Journalisten in die Karpato-Ukraine zu faschistischen Kampftruppen. Als Modejournalistin? getarnt unternimmt sie eine weitere Pressereise nach Bukarest. Noch während ihres dortigen Aufenthalts erfährt sie in einem Telefonat mit ihrer Schwester, dass sie in Prag bereits gesucht wurde. Kurzentschlossen flieht sie auf Umwegen nach Frankreich!®, erreicht es noch im selben Monat. Die ersten Wochen hält sie sich beim Ehepaar Kisch im Hotel Moderne in Versailles auf, die weitere Zeit in Paris. Sowie ihre wenigen finanziellen Reserven aufgebraucht sind, wird sie beim jüdischen Hilfskomitee vorstellig, verlangt nach einer noch funktionierenden Schreibmaschine. Geld verdient sie mit Redaktionsarbeit für die Agence France Press. Sie wechselt den Wohnort, kommt im Haus der Tschechoslowakischen Kultur, einer von Louis Aragon und dem Verband fortschrittlicher französischer Schriftsteller geförderten Wohngemeinschaft für tschechoslowakische Schriftsteller, unter. Sie taucht ein in die internationale Pariser Kunst- und Kulturszene, nimmt an gesellschaftlichen Anlässen teil. Sie trifft zum ersten Mal auf Anna Seghers, verbindet sich mit ihr in warmherziger Freundschaft. 52 ZWISCHENWELT Wenngleich sie von Freunden und Bekannten umgeben ist, quälen sie fortwährend Gedanken der Angst, Haltlosigkeit und Fremde, die sie nur langsam und mit zunehmender Bekanntschaft tschechoslowakischer Mitexilierter abzubauen vermag." Kurz nach Kriegsausbruch im September 1939 wird das Wohnhaus der Ischechoslowakischen Kultur durchsucht, seine Bewohner festgenommen, Reinerovä im Frauengefängnis La Petite Roquette interniert. Die Einzelhaft verbringt sie zunächst lesend, „später schreibend.“'* Inspiriert von Ernest Hemingway schreibt sie ihren ersten Roman Gustls Vorfall oder was die Ahoij Jungen dazu sagen. Sie erzählt von Prag und von den missglückten Versuchen eines innerlich gespaltenen Kellners, dem politischen Feind den weiteren Kaffeehausbesuch zu verderben. Ihn, wie auch die anderen Texte aus La Petite Roquette verfasst sie auf Tschechisch. Aus Vorsicht vor ungebetenen Mitlesern, wie sie später bekennt. '? Wenige Monate danach wird sie nach Rieucros, ein Internierungslager für unerwünschte Immigrantinnen in der Nähe von Marseille, überstellt. Mit etwa 30 bis 40 anderen Frauen, darunter nur eine weitere Tschechin, haust sie in einer Holzbaracke, wird Zeugin ihr belanglos erscheinender Auseinandersetzungen. Hunderte Frauen auf felsigem Gelände in einigen primitiven Holzbuden zusammengepfercht, von bekannten und unbekannten Gefahren bedroht und absoluter Unsicherheit ausgesetzt, können im eintönigen Tagaus- Tagein nicht wohltemperiert und harmonisch zusammenleben. Illusionen waren hier fehl am Platz. Soweit freilich eine ganz konkrete Bedrohung aufkam, rückte man zusammen. Einzelne Ausnahmen — aus Angst, Feigheit, unbezwingbarem Selbsterhaltungstrieb oder sonst einer Schwäche — konnten daran kaum etwas ändern.“ Sie selbst hingegen zückt Stift und Papier, schreibt Geschichten. „[Flür mich selbst Märchen, in denen immer Gut über Böse siegte, daneben auch lustige Liedertexte über die Misere und komischen Seiten des Lagerlebens, die dann bei Geburtstagsfeiern und ähnlichen Anlässen in unserer Baracke zum Vortrag kamen. Wenn sie die Frauen erheiterten, wenn die dann lachten, war ich froh. Daß mir die unverwischbaren schützenden Männerhände dabei halfen, wufste ich nur“? Weiskopfs „schützende Männerhände“ sind es auch, die ihr später aus der Lagerhaft verhelfen. Auf Initiative der American League of Writers, der Weiskopf mittlerweile angehört, erhält sie ein mexikanisches Einreisevisum. Nach mehr als eineinhalb Jahren Haft in La Petite Roquette und Rieucros fährt sie im März 1941 nach Marseille, wo sie sich mit fünf Italienerinnen in ein dürftiges Zimmer einmietet. Die Verbindung zu ihrer Familie in Prag hatte sie schon vor der Haft verloren.'° Sie nimmt Kontakt zu ihren tschechischen Freunden auf, beginnt die Ausreise nach Mexiko zu organisieren, wo sich bereits einige ihrer Prager Freunde, mitunter auch Egon Erwin Kisch, befinden. In Marseille begegnet sie ein weiteres Mal Anna Seghers. Sie verbringen noch einige gemeinsame Tage, che sie sich fast ein Jahr später in Mexiko wiederschen.'” Im Frühsommer 1941 betritt Reinerovä das in Richtung Mexiko auslaufende Flüchtlingsschiff Wyoming. Unerwartet wird es in Casablanca aufgefangen, seine Passagiere in das Barackenlager Oued-Zem überführt. Unter einem Vorwand erwirkt sie kurzzeitig Ausgang. Sie begibt sich nach Casablanca, kehrt nicht mehr zurück. Bei einem Spaziergang stößt sie zufällig auf den chemaligen Pariser Wohnungsgenossen Sturm, der zusammen mit anderen Tschechen ein leeres Bata-Haus bewohnt.'® Man bietet ihr kurzzeitigen Unterschlupf. Die darauffolgenden sechs