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hohe literarische Qualität, die Other Peoples Houses sowie Lore Segals andere Werke auszeichnet. So meinte die Kritikerin Carolyn Kitzer über ihr Werk Her First American in der New York Times im Jahr 1985: „Lore Segal may have come closer than anyone to writing the great American novel.“” Sowohl Other Peoples Houses als auch die deutsche Übersetzung, Wo andere Leute wohnen, wurden von den Verlagen als Romane klassifiziert, obwohl die ursprüngliche Artikelserie in der Zeitschrift New Yorker weder als „fiction“ noch als „non-fiction“ kategorisiert worden war und die Schriftstellerin Cynthia Ozick in ihrer Kritik, die später zum Vorwort für die Buchausgabe mutierte, von „Segal’s reminiscences“ spricht.® In einem Interview für mein Dissertationsprojekt gab Verleger Alexander Potyka an, dass das Werk als Roman am Markt bessere Chancen hatte.” Ob Other Peoples Houses bzw. Wo andere Leute wohnen nun als Roman oder als Autobiographie bezeichnet wird, ist im Grunde irrelevant. Ich stimme Judith Melton zu, wenn sie sagt, dass die autobiographische Zeugnisablegung viele Formen annehmen kann - von Memoiren zu Gedichten, Prosaliteratur und Filmen.'® Die langjährige Publikationsgeschichte der Zwischenwelt sowie die Arbeit des Theodor Kramer-Verlags untermauern diese Annahme ebenfalls. Laut Melton ist jede Art von Narrativ wertvoll, nicht zuletzt da die kreative Auseinandersetzung Exilierten dabei hilft, das psychologische "Irauma ihrer Vertreibung oder Flucht zu verarbeiten. In ihrem Werk Her First American (1985) schildert Lore Segal eine Szene, in der die Fxilierte Ilka Weissnix und ihre Mutter ins Wien der Nachkriegszeit zurückkehren. Dabei stellt sie Überlegungen über den komplexen Vorgang der Erinnerung an: „Remembering is a complicated act. The often-documented alteration of the size of the object, because of the viewer's altered size, is its simplest aspect. There is, besides, that coincidence of the ghostly, transparent, unstable stuff memory is made of, with the hard-edged material object, which, as often as not, is, in fact, altered.“!! Mit dieser Aussage über das Verhältnis zwischen der veränderlichen Größe eines Objekts und der Körpergröße des Betrachters spricht Segal bereits die Kinderperspektive an, die sie in Other People’s Houses auf einzigartige Weise vom Standpunkt einer Ich-Erzählerin rekreiert: Das Madchen, das auf einem Kindertransport gerade noch nach England entkommt, ist ein altkluges, trotziges Kind. Cynthia Ozick beschreibt ihre Stimme als trocken, lieblos, kalt, abgestumpft, aber auch komisch. Gerade aufgrund all dieser Pradikate vermag diese Stimme laut Ozick die LeserInnen enorm zu berühren, da sie die von der Überlebenden als unsühnbar empfundene Schuld zum Ausdruck bringt. !? David Hadar vergleicht Lore Segals Geschichte vom „undankbaren Flüchllingskind“ mit gegenwärtigen, nach maximalem Gefühlseffekt heischenden Darstellungen der Flüchtlingskrise, die Geflüchtete als Menschen darstellen, die wehrlos ihrem Schicksal ausgeliefert sind.!? In Other Peoples Houses demonstriert das junge Mädchen ihre Bereitschaft, ihr Schicksal so weit wie möglich in die Hand zu nehmen. In Segals späteren Romanen Her First American und Half the Kingdom sowie im Erzählband Shakespeares Kitchen weicht die Ich-Erzählerin der Figur von Ilka Weiss(nix). Die Liebesbezichung zwischen Ilka Weissnix, einer Exilierten, die den Krieg auf der Flucht durch mehrere europäische Länder überlebte, und dem afroamerikanischen Intellektuellen Carter Bayoux ist Gegenstand von Her First American. Carter Bayoux trat bereits am Ende von 56 ZWISCHENWELT Other Peoples Houses in Erscheinung und wird jetzt genau geschildert. Das Buch zeichnet nach, wie Ilka sich — ,,fresh off the boat“ —in den USA akkulturiert und dabei auch die afroamerikanische Kultur kennenlernt. Während Ilka in ihren englischen Dialogen anfangs noch genau Strukturen der deutschen Sprache imitiert, spricht sie Englisch im Laufe des Romans immer fließender. Die naive Figur der jüngst eingewanderten Ilka hat nur schr wenig mit Lore Segal zu tun, die ja bereits mit einem Abschluss in englischer Literatur nach New York einwanderte. Für die Figur des Carter Bayoux nahm Segal Anleihen beim Schriftsteller Horace Cayton (1903 — 1970), mit dem sie eine Freundschaft verband. Der Nachname der weiblichen Protagonistin kann so ausgelegt werden, dass sie als Neuankömmling ihrem Gastland noch völlig unbedarft gegenübertritt. Carter Bayoux weist sie jedoch auch darauf hin, dass ihr Name ebenfalls ihren Außenseiterstatus in der US-amerikanischen Gesellschaft als Weiss-nix — nicht-Weiße — zementiert. In Segals folgenden Werken, Shakespeares Kitchen und Half'the Kingdom heißt diese Figur schließlich Ilka Weiss. Sie hat sich Wissen angeeignet und bewegt sich selbstsicher in der New Yorker Literaturszene oder in einem Krankenhaus, in dem sie mit einigen Freunden aus Shakespeares Kitchen auf Detektivjagd geht. Erinnerungen an Kindheit und Exil tauchen jedoch immer wieder in beiden Werken auf. Übersetzerisches Als diasporisches Subjekt, das sich selbst in neue kulturelle Kontexte übersetzte, führte Lore Segal auch Übersetzungen aus ihrer ursprünglichen Muttersprache durch. So übersetzte sie 1967 Christian Morgensterns Galgenlieder — Gallows Song— gemeinsam mit dem US-amerikanischen Dichter und Pulitzer-Preisträger W.D. Snodgrass (1926 — 2009). In einer im New Yorker erschienenen Kritik ernten Snodgrass und Segal großes Lob für ihre Arbeit: „German [...] here takes on a demonic life of its own. [...] To translate Morgenstern is a very nearly impossible task, to which the present translators have faced up bravely and well.“'* Segal selbst beschreibt ihre Tätigkeit jedoch nur als eine helfende: „I was actually a sidekick.“'? Wie eingangs erwähnt, übersetzte sie auch aus Grimms Märchen ins Englische für den Kinderbuchillustrator Maurice Sendak, den Margalit Fox in einem Nachruf in der New York Times „den wichtigsten Kinderbuchkünstler des 20. Jahrhunderts“ nannte.!° Wie aus dem mit Lore Segal geführten Interview ersichtlich wird, stand die Schriftstellerin ihren ab den neunziger Jahren durchgeführten deutschen Übersetzungen kritisch gegenüber. Bei