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Trude Waehner: Le Madri, Holzschnitt kommt heraus. Sie hat rote verschwollene Augen und ich schaue auf meine Mutter: Ja, ihre Augen sind auch noch geschwollen. Der Mantel ist fertig, meine Mutter zahlt den Restbetrag. Dann erlebe ich zum ersten Mal, was für die nächsten Jahre so bleiben wird: Beide Frauen blicken sich vorsichtig um und senken die Stimme, bevor sie fragen: „Was wird jetzt werden? Glauben Sie, dass man uns was tut? Was wird geschehen?“ Ich fürchte mich, es weht mich kalt an. Am Nachmittag sollten die deutschen Soldaten, die seit dem frühen Morgen einmarschieren, auf dem Schwarzenbergplatz ankommen. Sie werden Gulaschkanonen mitbringen und Essen an die Not leidende Bevölkerung verteilen. Sie kommen aber nicht — auf dem Platz wuseln unzählige Funktionäre in allen möglichen Uniformen herum und bieten eine Flut von Broschüren an, die ich eifrig sammle, aber die Gulaschkanonen kommen nicht. Am nächsten Morgen spricht sich herum, dass die deutschen Truppen zu tanken vergessen haben und einige Stunden auf den Straßen warten mussten. In unseren Kreisen herrscht große Schadenfreude! In der Schule ist alles wie immer, offenbar gibt es in meiner Klasse keine jüdischen Kinder. Oder wir erfahren es nicht, denn meine Lehrerin bemüht sich gar nicht, ihre Verachtung für das neue Regime zu verbergen. Etwas später übersiedeln wir in eine andere Schule, denn in unsere werden Soldaten einquartiert. Das neue Schulgebäude ist sichtlich lange nicht benützt worden, in den zerkratzten und tintenbefleckten Klapptischen stecken noch Tintenfässer mit vertrockneter Tinte. In einer Ecke steht ein quietschendes verstimmtes Harmonium, zu dessen Begleitung wir gemeinsam mit der Parallelklasse ein sogenanntes „Lied der Bewegung“ einstudieren. Die beiden Lehrerinnen haben lange in einem Liederbuch geblättert, bis sie etwas gefunden haben, das keine Nazivokabeln enthält. Jetzt singen wir „Nur der Freiheit gehört unser Leben“. Erklärt wird uns nichts (es ist noch nicht üblich, Kinder als Gesprächspartner zu schen), aber eigentlich kennen wir uns alle aus. Meine Tante ist verhaftet worden, weil sich in ihrer Wohnung mehr als fünf Personen versammelt hatten. Das ist jetzt verboten und ein Nachbar hat sie angezeigt. Für meine Mutter beginnt die Serie der „Häfenbesuche“. Ich erfahre, dass mein Vater Jude ist — ich hatte ihn immer für einen Katholiken gehalten, der nicht in die Kirche geht - und dass er und seine Geschwister jetzt gefährdet sind. Meine Mutter ist aber „Arierin“ und kann sich frei bewegen, was für Behördenwege und Vorsprachen im „Häfen“ wichtig ist. Mein Vater ist auf Arbeitsuche, denn er hat seinen Posten gleich nach dem Finmarsch der Deutschen verloren. Abends kommen meine Eltern müde und gereizt zurück, für mich hat niemand 62 _ ZWISCHENWELT Zeit. Da trifft es sich gut, dass eine alte Freundin meiner Eltern, die plötzlich verreisen musste — viele alte Freunde müssen jetzt plötzlich verreisen —, ihre Bücher bei uns eingestellt hat. Früher haben meine Eltern sorgfältig ausgewählt, was ich lesen darf. Jetzt lese ich „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, „Der Grubenhund“, „Die Sünde wider das Blut“ und noch vieles andere, von dem ich ziemlich genau weiß, dass ich es nicht lesen dürfte. Zur Nachtmahlzeit kommt der SA-Mann, der unsere Wohnung arisieren will. Er kommt jeden Tag und fragt, wann wir ausziehen, steht eine Weile in der Tür und schaut uns beim Essen zu, dann geht er wieder. Er gibt nie auf, aber nach einigen Wochen hat sich die Lage geändert. Mein Vater hat sich entschlossen, als Bauarbeiter ins Altreich zu gehen, und für ein Jahr verpflichtet. Im Altreich ist die Schlechterstellung der Juden, die ja immer ruckweise erfolgt, gerade kein Thema und niemand fragt nach einem Ariernachweis. Außerdem hält mein Vater die Höhle des Löwen für einen guten Aufenthaltsort. Er ist am Nachmittag mit dem Zug auf die Insel Rügen gefahren, und wir haben ihm nachgewunken. Jetzt stellt sich meine Mutter in Positur und wartet auf den SA-Mann. Als er kommt, schrillt sie: „Das ist eine rein arische Wohnung!“ Er stolpert hinaus und wir werden ihn nie wieder schen. Unsere jüdischen Verwandten und Freunde sind schon alle nach England gefahren. Beim Abschied haben viele gesagt: „In einem halben Jahr sind wir zurück, länger kann sich das System nicht halten.“ Meine Eltern hätten auch Arbeitsplätze gehabt, aufeinem schottischen Schloss, als Köchin und Gärtner. Aber sie verbremsen die Abreise und können dann nicht mehr weg. Meine Mutter wird sich bis ans Lebensende Vorwürfe machen. Zwischen Anschluss und Volksabstimmung herrscht in Wien hektisches Treiben. Die Stadt ist geschmückt, überall hängen Fahnen und Girlanden, große Plakate fordern auf, mit Ja zu stimmen. Die Nazis rennen noch immer freudestrahlend herum, die „Märzveilchen“ (Leute, die durch die Propaganda und die Freude der Nazis vorübergehend zum Glauben verleitet wurden, dass jetzt alles besser werden müsse) strahlen auch. Dazwischen macht sich schon Enttäuschung breit. Die „Milchsondergeschäfte“ sind leergekauft, deutsche Soldaten und zivile Piefkes aus dem „Altreich“ haben sich auf Butter und Schlagobers gestürzt, mit dem Ausruf: „Das haben wir schon seit Jahren nicht mehr geschen!“ Dafür wird Magermilch angeboten, die nicht einmal die Nazis kaufen. Mit den Arbeitsplätzen schaut es auch nicht so rosig aus, denn die lukrativen Posten, auf die unsere „Illegalen“ gespitzt haben, werden hauptsächlich an Reichsdeutsche vergeben, die gleich nach dem Einmarsch der Truppen angereist sind. Die Arbeitsplätze im „Altreich“ hingegen sind nicht sehr begehrt. (Auch die Molkerei, in der mein Onkel in leitender Stellung tätig ist, hat einen Deutschen vorgesetzt bekommen, der „die schlappen Ostmärker auf Vordermann bringen“ soll, wie der Jargon lautet. Der Herr aus dem katholischen Rheinland, Preußenhasser und Antinazi, freundet sich gleich mit meiner Groffamilie an, ist aber bestürzt über den Leichtsinn und den Unernst, die er vorfindet: „Ihr habt vielleicht Nerven! Euch werden die Augen noch übergehen! Ihr habt ja keine Ahnung, was auf euch zukommt!“ Die Männer versprechen, vorsichtiger zu werden, die Frauen haben sich auch bisher schon gefürchtet.) Nur die Arisierer sind restlos glücklich, transportieren stolz Klaviere und Stilmöbel und schmücken ihre neuen Geschäfte und Wohnungen.