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BERICHTE Marianne Windsperger „Die Intention dieser Geschichten ist, dass wir den Leuten, die nicht bekannt sind, eine Stimme geben wollen. Die bekannten Autorinnen und Autoren haben ihre Bücher, aber die Leute hier, hätten ohne unsere Publikationen nicht die Möglichkeit, ihre Stimme an die Öffentlichkeit zu richten.“ (Renate Meissner, 17.10.2017) Seit dem Jahr 2000 gibt der österreichische Nationalfonds Lebenserinnerungen der Antragstellerinnen und Antragsteller in einer eigenen Publikationsreihe heraus. Ich habe die Mitarbeiterinnen des Lebensgeschichte-Teams, Renate Meissner, Mirjam Langer und Michaela Niklas getroffen und mit ihnen über Anfänge, Herausforderungen und zukünftige Projekte ihrer Dokumentationsarbeit gesprochen. „In die Tiefe geblickt“ — die Anfänge „Primär war es unsere Aufgabe, für die Leute da zu sein und für den Antrag der Entschädigung die persönlichen Daten zu Exil und Verfolgung aufzunehmen. Es hat sich aber in den ersten Gesprächen, die ich noch im Parlament in einem provisorischen Büro geführt habe, herausgestellt, dass es sehr wichtig für die Leute ist, ihre gesamte Lebensgeschichte erst einmal mündlich zu präsentieren“, erzählt die stellvertretende Generalsekretärin und wissenschaftliche Leiterin des Nationalfonds Renate Meissner. Sobald der Nationalfonds seine Arbeit aufgenommen hatte, war sie mit den Geschichten der Antragstellerinnen und -antragsteller konfrontiert. Von Anfang an war die Arbeit des Nationalfonds eine Arbeit gegen die Zeit: Die Verfolgten des Nationalsozialismus waren meist schon in hohem Alter, die finanzielle Geste als Ausdruck der Entschuldigung der Republik Osterreich musste daher schnell abgewickelt werden. Viele der erzählten Geschichten mussten zunächst im Kopf abgespeichert bleiben, es war keine Zeit, sie niederzuschreiben, das Team zu klein und die Aufgaben zu umfangreich. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern war jedoch bewusst, dass die Erzählungen der AntragstellerInnen ein wichtiges Kapitel der österreichischen Geschichte darstellten und dass diese nicht nur für den Antragsprozess, sondern für ein österreichisches Publikum dokumentiert und publiziert werden sollten. Das Gedenkjahr 2008 Im Jahr 2008 wurde der Nationalfonds eingeladen, die Veranstaltung zum Gedenken gegen Gewalt und Rassismus am 5. Mai im Nationalrat mitzugestalten. Dieser Gedenktag bot die Gelegenheit, die gesammelten Lebensgeschichten in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Unter dem Motto „War nie Kind“ standen Erinnerungen von Überlebenden im Mittelpunkt, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten als Kinder erleben mussten. Zusammen mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur wurden Texte der AntragstellerInnen ausgewählt, die Lebensgeschichten wurden von im Parlament von Schauspielerinnen und Schauspielern vorgetragen. „Das haben wir genutzt, um zu sagen, dass wir auf unserer Homepage kontinuierlich Lebensgeschichten anbieten wollen. Diese Geschichten aus den Veranstaltungen waren dann auch die ersten, die wir auf unsere Homepage gestellt haben“, so Renate Meissner. Heute stehen ca. 100 Lebensgeschichten online zur Verfügung, manche in englischer Sprache, manche auf Deutsch und manche in beiden Sprachen, so dass man auch zwischen den Sprachen springen kann. Mit der Veröffentlichung der Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Netz war auch der Grundstein für die Publikationsreihe Einnerungen gelegt. Der Weg zum Buch „Wie fangen wir an? Also, einerseits haben wir meistens schon Leute im Kopf, die uns schon irgendwo untergekommen sind, andererseits fangen wir an mit einer Abfrage bei uns im Computersystem, wobei das natürlich cher schwierig ist, weil die im System gespeicherten Daten nicht nach lebensgeschichtlichen Kriterien erfasst wurden, sondern eben für diese Gestezahlung, d.h. wir suchen nach Stichwörtern, nach Wohnsitz und haben dann sehr viele Zufallstreffer und bestellen sehr viele Akten, die wir gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen sichten, und wenn wir etwas Spannendes, also Material zur Lebensgeschichte finden, dann kontaktieren wir diese Menschen“, beschreibt Michaela Niklas ihre Arbeit. Einen Band zu machen heißt einzelne Geschichten auszuwählen und thematische Schwerpunkte zu setzen. Das Lebensgeschichte-Team sieht sich mit unzahligen Fragen konfrontiert: Werden sie noch Menschen finden, die erzählen wollen und können? Finden sie in ihrem Archiv lebensgeschichtliche Aufzeichnungen und dokumentarisches Material? Wird es möglich sein, Erben ausfindig zu machen? Für die IN DIE TIEFE GEBLICKT LEBENSGESCHICHTEN Publikation der Lebensgeschichten müssen die MitarbeiterInnen des Nationalfonds das Einverständnis der noch Lebenden bzw. der Erben einholen. Viele AntragstellerInnen sind nicht mehr am Leben, oft können die Dezember 2017 65