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RechtsnachfolgerInnen nicht ausfindig gemacht werden — und das wird von Jahr zu Jahr schwieriger —, dann diirfen ihre Geschichten nicht publiziert werden. „Die Idee von Band 1 war, die Öffentlichkeit auf alle Opfergruppen und ihre Schicksale aufmerksam zu machen. Für den zweiten Band haben wir überlegt, einen historischen Band zu machen und das Jahr 1942 in den Mittelpunkt zu stellen, weil sich ab 1942 mit der WannseeKonferenz die Lage der Juden zugespitzt hat, aber auch die der anderen Gruppen wie die der Kärntner Sloweninnen und Slowenen. Und weil es da so viele Geschichten in englischer Sprache gab, haben wir beschlossen, einen deutsch-englischen Wendeband zu machen“, erzählt Renate Meissner. Der dritte Band der Erinnerungen stellt das Exil in Afrika, der vierte Band das Exil in Asien in den Mittelpunkt. Idee war es hier, Destinationen in den Blick zu nehmen, die im österreichischen kollektiven Gedächtnis nicht als Exilländer präsent sind. An einem Band zu Australien und Neuseeland wird gerade gearbeitet, ein Schwerpunkt Südamerika ist in Planung. Dass ein neuer Band entstehen kann, hat aber auch mit den Netzwerken der Exilierten und Überlebenden selbst zu tun, denn oft entstehen neue Kontakte durch Mundpropaganda. Die Kontaktaufnahme mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erfolgt zumeist über E-mail, viele von ihnen sind trotz ihres hohen Alters in der digitalen Welt zuhause. Im Archiv des Nationalfonds finden sich Berichte aus den Anträgen selbst, Dokumente und lebensgeschichtliche Aufzeichnungen, einige wenige Tagebücher und Fotos. Zusätzliches Material kommt dann auf Nachfrage: Einerseits senden die Nachfahren Dokumente und Verschriftlichtes aus dem Familienarchiv, andererseits wird eine Anfrage durch den Nationalfonds auch selbst immer wieder zum Schreibanlass. Die Arbeit mit den Nachfahren „Immer mehr hat man mit den Nachfahren, Kindern und Erben zu tun, da ist man dann natürlich darauf angewiesen, dass die etwas haben, was die Eltern schon verschriftlicht haben“, erzählt Mirjam Langer und weist darauf hin, dass die Geschichten, die in die Bände Eingang finden, von Menschen in ganz unterschiedlichen Lebensphasen verfasst wurden. Manche haben ihre Erinnerungen direkt nach dem Krieg verschriftlicht, dann lange liegen lassen, vielleicht irgendwann überarbeitet, andere haben erst im Alter ihre Geschichte für die Kinder und Enkelkinder zu Papier gebracht. Auch der Schritt an die Öffentlichkeit wurde von den meisten Antragstellerinnnen und Antragstellern nicht mitgedacht. Anders als bei Oral-History-Projekten gibt es bei den Lebensgeschichten des Nationalfonds weder Fragebögen noch andere Vorgaben, wie die Erinnerungen erzählt und strukturiert 66 ZWISCHENWELT werden sollen. Immer wieder werden den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch umfangreiche Manuskripte angeboten, die in einem eigenen Band publiziert werden sollten. Einzelne autobiographische Texte kann der Nationalfonds jedoch nicht herausgeben, dazu fehlen sowohl die budgetaren Mittel als auch die personellen Ressourcen. „Was das Schöne ist und was ich nie gedacht hatte, dass jetzt, wo wir mit den Lebensgeschichten arbeiten, neue Kontakte entstehen, dass wir jetzt Kontakt mit der nächsten Generation oder teilweise mit Menschen zu tun haben, die als Kinder oder Babies betroffen waren. Ohne die Dokumentation der Lebensgeschichten hätten wir diese Leute nicht kennengelernt“, freut sich Renate Meissner. Berührungspunkte In der Arbeit mit lebensgeschichtlichen Quellen und Erzahlungen gibt es immer wieder Berührungspunkte zu eigenen Erfahrungen, sei es über die eigene Familiengeschichte, über konkrete Orte oder über das Alter der eigenen Kinder. „Man wird nicht abgebrüht, die Haut wird eigentlich dünner“, sagt Renate Meissner über ihre Beschäftigung mit den Erinnerungen der Überlebenden und berichtet von einer Geschichte, die sie schr lange beschäftigt hat: [...] das ist die Geschichte von Margarethe Budroni, die mich beim Nationalfonds angerufen hat, am Telefon ihre Lebensgeschichte geschildert hat und nachgefragt hat, ob sie anspruchsberechtigt ist für die Gestezahlung. Ich musste ihr damals sagen, dass sie als kleines Kind eines politisch Verfolgten nicht anspruchsberechtigt ist, das war damals die gesetzliche Lage, die Opfergruppen wurden ja kontinuierlich ausgeweitet. Sie hat so geweint am Telefon und ich dachte natürlich, dass sie anspruchsberechtigt wäre, musste ihr aber leider sagen, dass sie als Kind eines Verfolgten im Sinne des Gesetzes nicht als Verfolgte gilt, das war furchtbar. Und das war die erste Dame, die ich gebeten habe, ihre Geschichte niederzuschreiben. |...] In der Folge konnten wir dann eine Erweiterung des Gesetzes erwirken, so dass heute auch Kinder von Verfolgten anspruchsberechtigt sind. Und sie hat damals gesagt, dass ich ihre Geschichte nur publizieren darf, wenn ich in die Geschichte hineinschreibe, dass sie bereit ist, ihre Geschichte zu erzählen, obwohl sie nichts vom Nationalfonds bekommen hat. Und als die Geschichte im Druck war, wurde das Gesetz geändert und sie war drinnen und das hat mich besonders gefreut. Zusammenarbeit mit den ZeitzeugInnenseminaren und Schulen Aus den Gesprächen mit den Zeitzeuglnnen wissen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lebengeschichte-Teams, dass die Weitergabe der individuellen Geschichten an junge Generationen hier in Österreich von zentraler Bedeutung für diese Menschen ist. Primär wendet sich der Nationalfonds mit den in Bandform herausgegebenen Lebensgeschichten daher an ein junges Publikum und arbeitet eng mit Schulen und Bildungseinrichtungen zusammen. Die Erinnerungen werden mit Fußnoten und Glossar versehen, um historische Zusammenhänge, Daten und Kontexte zu erklären, nur so können diese im Unterricht eingesetzt werden. Immer wieder werden die MitarbeiterInnen des Nationalfonds auch eingeladen, ihre Bände in LehrerInnen-Seminaren vorzustellen (z.B. beim ZeitzeugInnen-Seminar, das jährlich in Salzburg stattfindet). Aus diesen Workshops wissen sie, dass die Bände in ganz unterschiedlichen Schulen (auch in der Krankenpflege-Ausbildung und der Grundwehrdienerausbildung) und Schulfächern (Englisch, Deutsch, Geschichte, Religion, Ethik, politische Bildung etc.) zum Einsatz kommen. Erinnerungen und Geschichte(n) In dem zweiten Band der Erinnerungen überlegt der Historiker und Experte für Erinnerungspolitik Gerhard Botz, worin die Besonderheit dieser Lebensgeschichten besteht und welche Bedeutung ihnen in der großen Geschichtserzählung zukommt: Diese [Lebensgeschichten] ‚spiegeln‘ tatsächlich das, was für das unmittelbar alltägliche Überleben wichtig war. Dagegen spielen die ‚Fakten‘ und Ereignisse der ‚großen Geschichte‘ darin kaum eine Rolle. (Erinnerungen, Band 2, S. 27) Mit dieser Beobachtung schließt Gerhard Botz an gegenwärtige Diskussionen um die Narrativität und Darstellbarkeit historischer Ereignisse an, große Geschichte ist immer eingebettet in aktuelle Diskurse so wie auch Erinnerung und Gedenken immer im Hier und Jetzt passieren. Die vom Nationalfonds publizierten Erzählungen von ZeitzeugInnen machen deutlich, dass es „die große Geschichte“ nicht gibt, sondern dass Geschichte in genau diesem Wechselspiel individueller Erlebnisse, kollektiver Erinnerungen und politischer Diskurse für den einen oder anderen Leser bzw.die eine oder andere Leserin erfahrbar wird. Alle Zitate — wenn nicht anders angeführt — stammen aus dem Gespräch vom 17.10.2017 in Wien mit Dr. Renate Meissner MSc, stellvertretende Generalsekretärin und wissenschaftliche Leiterin des Nationalfonds, Mag. Mirjam Langer und Mag. Michaela Niklas, Dokumentation Lebensgeschichten im Nationalfonds. Link zu den Lebensgeschichten online: Attps:/www.nationalfonds.org/lebensgeschichten.html Link zur Buchreihe: Attps://www.nationalfonds. org/buchreiheerinnerungen-487.html Link zu den Zeitzeugelnnen-Seminaren für Lehrerinnen und Lehrer: Attp://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/ aktivitaten/zeitzeuge n-besuche-im-unterricht