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zwischen den Lagern ist vieles noch möglich. Dort, wo es darum geht, was lebenswert ist, und nicht, was eine geschlossene Wertvorstellung ist. Dass Diversität lebenswert ist, dass universelle Menschenrechte, dass Gleichberechtigung, dass Gender-Studies, dass nicht-autoritäre Strukturen unsere Gesellschaft lebenswerter machen, weil sie jeder Form von friedlicher und toleranter Lebenswirklichkeit ihre Entfaltung ermöglichen, muss hinausgetragen werden. Und bei manchen Dingen muss angesprochen werden, wie problematisch sie mit diesen Überzeugungen zu vereinbaren sind, angefangen beim Kapitalismus westlicher Prägung, bis hin zum Frauenbild in islamisch geprägten Gesellschaften. Wenn die westliche Gesellschaft solche Themen nicht von populistischen Tendenzen trennen kann, liegt das nicht daran, dass es generell populistische "Ihemen sein müssen, sondern dass sie bisher stark von dieser Strömung vereinnahmt wurden. Diese Prägung muss aufgehoben werden. Es geht nicht darum, dass die derzeitige Gesellschaft in Europa nur verteidigt und erhalten werden muss, sie muss in Teilen reformiert werden, sie muss sich den neuen Gegebenheiten, den Auswüchsen der Finanzmärkte, den radikal-autoritären russischen, amerikanischen und innereuropäischen Entwicklungen stellen, und zwar nicht in einer schlichten Berufung auf das Derzeitige, sondern in einer Weiterentwicklung des Derzeitigen anhand der liberalen und sozialen Werte, die unsere Gesellschaft ausmachen. Wir leben noch nicht in der besten aller Welten! Wir sind nur, wenn wir wollen, auf dem besten Weg. Und das auch schon nicht mehr, wenn wir uns von den Rechten die Ihematisierung und Weiterentwicklung abnehmen lassen. Um ein Beispiel zu geben: Alles, was ich in den letzten vier Absätzen geschrieben habe, sollte man kritisch begutachten. Es wäre aber allzu typisch für gewisse Gesprächskulturen, wenn man mich aufgrund dieser Aussagen einfach in eine Ecke stellen und sich nicht weiter mit meinen Ansätzen auseinandersetzen würde. Bei tatsächlich verachtenden oder extrem problematischen Aussagen wäre das auch die richtige Vorgehensweise. Aber mittlerweile wird auch von der Thematisierung zentraler gesellschaftlicher Entwicklungen haufig Abstand genommen. Das ist einerseits ein Zeichen fiir das wachsende Bewusstsein bzgl. vorschneller Zuschreibungen und menschlicher Diversität, was aber andererseits nicht dazu führen darf, dass wir davon absehen, weiter darüber zu reden, wie wir uns Hermann Kesten (1900 Podwotoczyska bei Tarnopol — 1996 Riehen bei Basel) wuchs als Sohn eines Kaufmanns in Nürnberg auf. Die Familie hieß ursprünglich Kestenbaum. Kesten verbrachte eine glückliche Kindheit und lobte die gute und liebevolle Ehe seiner Eltern. Auch für sein eigenes Leben galt: „Ich liebe, wie ein anderer atmet. Also wurde ich geliebt. Wo ich ging, fand ich Freunde und Freundinnen. [...] Ich fühlte mich also in aller Welt zu Hause.“ Ein Cousin seiner Großmutter war der Schriftsteller Karl Emil Franzos. 1918 fiel sein Vater im Ersten Weltkrieg. Er hatte eine ältere und eine jüngere Schwester; mit beiden hatte er zeitlebens ein enges Verhältnis. Kesten studierte Jus, Nationalökonomie und Germanistik in Erlangen und Frankfurt, schloss jedoch sein Studium nicht ab. 1927 wurde er in Berlin Lektor des Kiepenheuer Verlags. 1928 heiratete er in der Synagoge von Nürnberg Toni Warowitz. Es wurde bis zu Tonis Tod 1977 in Rom eine schr glückliche Ehe, die kinderlos blieb. 1933 ging Kesten nach Amsterdam, wo er mit Walter Landauer die deutsche Abteilung des Verlags Allert de Lange leitete. Von 1940 bis 1949 lebte Kesten im Exil in New York, danach in Rom. In New York setzte er sich im Rahmen des Emergency Rescue Committee für die Rettung von Flüchtlingen ein. 1950 reisten die Kestens nach Israel, wo sie viele Verwandte hatten. Kesten konnte sich jedoch nicht mit dem Land identifizieren und schrieb über seine Identität: „Ich wusste immer, dass ich ein Jude war, und nie genau, was ein Jude war.“ Kesten schrieb zahlreiche Romane, Dramen und Erzählungen, wurde 1974 mit dem Georg Büchner-Preis ausgezeichnet und war von 1972 bis 1976 Präsident des deutschen PENZentrums. 1964 gab er den wichtigen Band „Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1922-1949“ heraus. Ebenfalls 1964 erschien der von ihm edierte Band „Ich lebe nicht in der Bundesrepublik“ mit Beiträgen u.a. von Erich Fried, Jakov Lind, Robert Neumann und Manés Sperber. Kesten schrieb auch die Essaybände „Meine Freunde, die Poeten“, „Dichter im Cafe“ und „Lauter Literaten“. Als enger Freund von Joseph Roth gab er dessen Werk- und Briefausgabe heraus. In seinen letzten Jahren lebte Kesten im jüdischen Alters- und Pflegeheim La Charmille in Basel. Er nahm an jüdischen Festen und auch an den Gottesdiensten teil, wenn er für einen Minjan (die zehn Männer für einen traditionellen jüdischen Gottesdienst) benötigt wurde. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Albert M. Debrunner hat nun eine gut geschriebene und recherchierte Biographie Kestens vorgelegt, die uns diesen sympathischen Menschen und Schriftsteller näher kennen lernen lässt. Nur ein Irrtum muss korrigiert werden: Es war nicht Hilde Spiel, sondern Hannah Arendt, mit der Toni Kesten und Adrienne Thomas im Lager Gurs in Frankreich interniert waren. mit neuen Entwicklungen auseinandersetzen und uns mit neuen Gedanken weiterbewegen, um uns nicht im Kreis zu drehen. Sonst könnte es irgendwann passieren, dass wir der Argumentation der Konservativen und Rechten nur noch hinterherlaufen. Ich will weiterhin in einer Gesellschaft leben, in der universale, menschliche, liberale, tolerante Werte angestrebt werden. Das geschieht nicht durch Stehenbleiben. Andre Gide hat einmal gesagt: Mensch sein heifst: Mensch WERDEN. Wir leben in bewegten Zeiten — das ist eine dumme Phrase. Aber man sollte dennoch auf die Bewegungen achten, denn das, was errichtet ist, ist immer fragil. Die Bewegungen, der Wandel, sind leider das einzig Beständige. In und mit den Bewegungen muss man leben und sollte das Begradigen ihrer Flussbetten nicht den Leuten überlassen, die in diesem Buch als Charaktere auftreten. Timo Brandt Volker Weiß: Die autoritäre Revolte: Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart: Klett-Cotta 2017. 256 S. € 20,Die Rezensentin hat in der ZW bereits einmal auf Kesten hingewiesen (24 Jg., Nr.4, März 2008, S. 46), als im Aisthesis Verlag ein von Walter Fahnders und Hendrik Weber herausgegebener Sammelband zu Kestens Werk erschien. Evelyn Adunka Albert M. Debrunner: „Zu Hause im 20. Jahrhundert“. Hermann Kesten, Biographie. Wädenswil am Zürichsee: Nimbus 2017. 412 5. € 36, Trude Waehner: Lacrimosa dal Regiem di Benjamin Britten, Holzschnitt aus dem Zyklus „I Cori“ Dezember 2017 71