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Guido Adlers Erbe Der aus Mähren stammende Wiener Musikwissenschaftler Guido Adler starb im Februar 1941 im Alter von 86 Jahren in Wien. Sein Sohn, der Arzt Hubert Joachim Adler, war bereits 1938 mit seiner Familie in die USA geflüchtet. Seine Tochter Melanie blieb in Wien und pflegte ihren Vater. Nach seinem Tod versuchte sie die Bibliothek an die Universität München zu verkaufen. Sie bemühte sich um eine Ausreise nach Italien und bat Winifred Wagner vergeblich um Hilfe. Im Mai 1942 wurde Melanie Adler nach Maly Trostinec bei Minsk deportiert und ermordet. Die Bibliothek Adlers wurde an das von Erich Schenk geleitete musikwissenschaftliche Institut der Universität Wien gebracht. Ein 1942 angefertigtes Inventar der Bibliothek hat sich nicht erhalten, so dass über ihren Gesamtumfang nichts ausgesagt werden kann. Nach 1945 wurden über 1.000 Bücher, Noten und Zeitschriften aus Adlers Nachlass an die Erben in einem komplexen, im Buch von Markus Stumpf (dem Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte) genau beschriebenen Verfahren Ein neues Tagebuch und Victor Klemperer (1881 — 1960) wuchs als Sohn des liberalen Rabbiners Wilhelm Klemperer in Bromberg in Preußen und Berlin auf. Von 1920 bis 1935 lehrte er Romanistik an der Technischen Hochschule in Dresden. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Studien; berühmt wurde er jedoch für seine vom Aufbau Verlag ab 1995 publizierten Tagebücher von 1918 bis 1959 im Umfang von 8.000 Seiten, herausgegeben von Walter Nowojski. Sie sind ein einzigartiges dokumentarisches Werk und eine präzise Chronik der tagtäglichen Verschärfung der Verfolgung von 1933 bis 1945. Auszüge daraus werden von engagierten Lehrern gerne im Schulunterricht verwendet. 1996 erschien auch Klemperers zweibändige, bis ins Jahr 1918 reichende Autobiographie. Klemperer war seit 1906 mit der Pianistin Eva Schlemmer verheiratet und wurde wegen dieser Mischehe von den Deportationen in Dresden vorerst zurückgestellt. 1940 musste das Paar sein Haus verlassen und in ein „Judenhaus“ ziehen. Nach den alliierten Luftangriffen im Februar 1945 fliichteten die Klemperers nach Bayern, wo sie die Befreiung erlebten. In Dresden fanden sie ihr Haus intakt; die umfangreiche Bibliothek wurde beschlagnahmt und im Bombenkrieg vernichtet. Klemperer lehrte erneut in Dresden, weiters in Greifswald, Halle und an der Humboldt Universität in Ostberlin. Von 1953 bis 1957 war er auch Abgeordneter der Volkskammer der DDR. Seit kurzem liegen zwei weitere Editionen aus dem Nachlass Klemperers vor. 1919 unterrichtete Klemperer kurz an der Universität München. Das Revolutionstagebuch enthält viele genaue Personenbeobachtungen und Klemperers restituiert und von der University of Georgia angekauft. 2012/13 wurden in der Hauptbibliothek der UB Wien und der Fachbereichsbibliothek für Musikwissenschaft im Zuge der Provenienzforschung weitere 180 Bände aus dem Nachlass Adlers gefunden und restituiert. Dieser Bestand wurde bei Sotheby's versteigert; umso wichtiger ist die von Stumpf für das vorliegende Buch erstellte kommentierte Liste. Der Band enthält neue Einblicke und eine Aufarbeitung der komplexen Enteignungs- und Restitutionsgeschichte von Adlers Bibliothek. Barbara Boisits von der Akademie der Wissenschaften porträtiert Adlers Erbe aus musikwissenschaftlicher Perspektive. Philip V. Bohlman und Bruno Nettl diskutieren „Adler in America“. Tom Adler, Guido Adlers 2010 verstorbener Enkel, erzählte bereits 2003 in dem Buch „Lost to the World“ das Schicksal von Adlers Bibliothek aus der Perspektive der Familie. 2000 klagte er mithilfe von Alfred Noll Richard Heiserer jun., den Sohn des nationalsozialistischen Abwesenheitskurator der Bibliothek, als dieser bei Sotheby‘s ein Gustav Mahler Autograph aus Adlers Besitz versteigern lassen wollte. Der Prozeß endete mit einem Vergleich. Michael Lissak und Elisabeth Stratka produzierten für die Ö 1 Reihe „Hörbilder“ ein Feature, das diesen Sommer in der Reihe „Museum der Meisterwerke“ wiederholt wurde. Die Beiträge des Sammelbands basieren auf den Vorträgen einer Tagung, die 2013 auf der Universität Wien stattfand. Der Rektor der Universitat Wien, Heinz W. Engl, verweist in seinem Geleitwort auf weitere Projekte der Universitat zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. EA. Markus Stumpf, Herbert Posch, Oliver Rathkolb (H¢.): Guido Adlers Erbe. Restitution und Erinnerung an der Universität Wien. Göttingen: V & R unipress. Vienna University Press 2017. 3148. € 45.Berichte in den konservativen Leipziger Neuesten Nachrichten. In der Münchner Räterepublik sah er nur ein lächerliches Komödienspiel, obwohl er auch für das Bürgertum keine Sympathie empfand. Ergänzt wird der Band durch ein Vorwort von Christopher Clark und einem Essay von Wolfram Wette. Der umfangreiche, kompetent eingeleitete und annotierte Band gesammelter Briefe umfasst Klemperers Korrespondenz von 1909 bis 1960, mit einer Unterbrechung von 1941 bis 1945, der Zeitspanne, aus der sich keine Briefe erhalten haben. An seinen Bruder, den Internisten Georg Klemperer, der 1935 in die USA emigrierte, schreibt Klemperer 1934: „Außer Landes würde ich nur gehen, wenn es durchaus sein müsste, und wenn ich keine andere Lebensmöglichkeit mehr hätte — und vielleicht selbst dann nicht.“ Aber ab 1936 sah er für sich keine Zukunft mehr in Deutschland. Die vielen vergeblichen Bemühungen um eine Stelle im Ausland sind ein wichtiges Thema der Korrespondenz der folgenden Jahre. Nach dem Novemberpogrom 1938 bekennt er offen: „Ich nehme jeden Posten in jedem Erdteil und jedem Lande ein, der meine Frau und mich ernährt.“ Sogar Palästina schließt er nicht aus, obwohl er ehrlicherweise auf seine Taufe von 1903 hinweist. Klemperer bekannte sich immer zu seinem Deutschtum, das Judentum bedeutete ihm, wie er ausdrücklich schrieb, nichts. Im Zionismus sah er einen Rassismus; viele Stellen in den Tagebüchern und Erinnerungen enthalten antizionistische Bemerkungen. 1947 schreibt er einem ehemaligen Nachbarn: „Wir selbst haben nichts gerettet als eine zerrüttete Gesundheit und den leidenschaftlichen Willen, den Rest unseres Lebens daran zu setzen, dass es in Deutschland noch einmal menschlich werde.“ 1947 erschien auch Klemperers Buch 277. Lingua Tertii Imperii über die Sprache und den Sprachverfall des Dritten Reiches. Es enthält ein Kapitel übe den Zionismus, den er in einigen sehr fragwürdigen Passagen mit dem Nationalsozialismus vergleicht. Der Aufbau Verlag wollte dieses Kapitel ursprünglich streichen; sein Leiter Erich Wendt schrieb an Klemperer: „... sachlich mag alles richtig sein, aber ein Vergleich eines Führers der nationalistisch jüdischen Bewegung mit Hitler nach all dem, was Hitler den Juden getan hat, ist, gleichviel, auf welchem Gebiet dieser Vergleich auch angestellt wird, eine sehr, sehr böse Sache. 6 Millionen gemordete Juden sind eine Greueltat und ein nationales Unglück sondergleichen. Sie als Jude können sich natürlich in dieser Hinsicht freier fühlen, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass das Buch auch von Nichtjuden und von ehemaligen Nazis gelesen wird, und Sie müssen sich immer vorstellen, wie das auf solche Leute wirkt.“ E.A. Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Berlin: Aufbau 2015. 263 S. € 19,95 Victor Klemperer: Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen. Hg. von Walter Nowojski und Nele Holdack unter Mitarbeit von Christian Löser. Berlin: Aufbau 2017. 640 5. € 28,Dezember 2017 73