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Editorial Nur selten war mir die Abfassung eines Editorials so widerwärtig wie jetzt. Selbstverständlich gelüstet es auch mich, zu den politischen Ereignissen der letzten Monate wortreich Stellung zu nehmen, zur wachsenden Gefahr großer kriegerischer Auseinandersetzungen, zum neuen Sultan in Ankara, zur kurdischen Frage oder gar zur schwarz-blauen Koalition, die ihren türkisblauen Schatten auf Österreich wirft. Zu letzterer hat der Schriftsteller Michael Köhlmeier beim ofhiziösen Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus am 4. Mai 2018 die richtigen Worte gefunden, wogegen Vertreter der Freiheitlichen Partei (FPÖ) heftig protestierten. Diese FPÖ unterhält die freundschaftlichsten Beziehungen zu Wladimir Putins Staatspartei „Einiges Rußland“; es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Partei gleich dem „Front National“ von russischer Seite finanziell unterstützt worden ist. Wie überhaupt die heutige russische Außenpolitik in Europa an die Kabinettspolitik des zaristischen Rußland im 19. Jahrhundert erinnert, vor der ein gewisser Karl Marx nachdrücklich warnte. (Bis hin zur Befürwortung des Krimkrieges!) Während Putins Rußland mit den verschiedensten Mitteln versucht, die europäische Einigung zu torpedieren, machen sich andere wiederum Sorgen über den „Untergang des Abendlandes“. Am 3. März 2018 trafen sich im oberösterreichischen Wasserschloß Aistersheim vorgeblich 600 „Verteidiger Europas“ zu einem rechtsextremen Kongreß. Dazu hieß es auf der Homepage der Veranstalter: „Die Zeit, in der wir tatenlos am Straßenrand der Geschichte stehen geblieben sind und die gesellschaftliche Veränderung an uns vorbeiziehen haben lassen, ist zu Ende.“ Der Satz ist bemerkenswert. Offenbar ist das „Wir“ dieses Satzes mit der Niederwerfung des NS-Regimes aus der Geschichte ausgetreten und hat voll stillem Groll seiner Chance geharrt. Jorg Haider hatte schon vor mehr als zwei Jahrzehnten vor SS-Veteranen gesagt, „... daß sich die Anständigkeit durchsetzt, auch wenn wir momentan nicht mehrheitsfähig sind. Aber wir sind geistig den anderen überlegen ...“ Dieses „Wir“ formiert sich neu zur Abwehr drohender Gefahren, beruft sich auf ein gemeinsames europäisches Erbe, auf die „abendländischen Werte“. Es ist ein defensiv-aggressives Programm, wünscht sich einen gesamteuropäischen oder gar eurasischen Imperialismus nach außen und einen selbstsüchtigen Nationalimus nach innen. Kriegstreiberisch ist es allemal. Wirklich erschüttert hat mich aber in den letzten Monaten der verzweifelte Widerstand der KurdInnen im sogenannten Kanton Afrin, der doch in der trügerischen Erwartung geleistet wurde, daß irgendeine der sonst in Syrien so umtriebigen Großmächte dazwischentrete und der Zerstörung einer bis dahin verschonten Region Einhalt gebiete. Ohnmächtig verfolgte ich den Verlauf der Tragödie, umso mehr auf Wunder hoffend, je länger der Kampf andauerte. Wunderlich hingegen verhielten sich die europäischen Regierungen: Erstarrt in der Furcht vor neuen, politisch nicht verkraftbaren Flüchtlingsströmen, sahen sie tatenlos zu, wie neue Massen von Menschen auf der Flucht produziert wurden. 4 ZWISCHENWELT Ganz wenige LeserInnen werden sich an meinen Sketch „Besuch bei den Umzus“ erinnern, veröffentlicht in ZW Nr. 2/2004. Darin wird eine dem „Umzulismus“ verpflichtete Famile von einem Reporter interviewt. Kern der umzulischen Lehre ist, daß nichts um seiner selbst willen geschehen darf. So wird ein harmonisches Familienleben als Grundlage der Leistungsbereitschaft angestrebt und jeder Bildungsinhalt Schritt für Schritt, Textsorte für Textsorte darauf abgeklopft, wofür er denn gut sei. Für Humor sorgt, daß die armen Umzus jeden Satz mit einer Infinitvkonstruktion finalisieren müssen, die mit „um zu“ beginnt. Vielleicht war der Sketch schon damals nicht mehr Satire, sondern eher schon naiver Realismus. Günther Anders‘ „Ihesen zur Erziehung heute“, geschrieben 1947 in New York, arbeiten mit analytischer Schärfe die historischen Wurzeln dieses Bildungs-Pragmatismus heraus und sind daher von erschreckender Aktualität. Er zeichnet die Konturen der nationalsozialistischen Katastrophe auf dem Gebiet der Bildung nach; die Probleme aus der unmittelbaren Nachkriegszeit sind den heutigen nicht allein ähnlich - in manchem hat man den Eindruck, dies sei der feste Untergrund barbarischer Ignoranz und Verweigerung, der zum Vorschein kommt, sobald die Anstrengungen humanistisch Engagierter und kritischer Intellektueller, der „Gutmenschen“ also, nur ein wenig nachlassen oder an Breitenwirkung verlieren. Was „politische Aufklärung“, „Vergangenheitsbewältigung“, „Gedenkkultur“ vermochten, war, so scheint es, eine dünne Kruste über das zu legen, was Christian Frosch, Regisseur des Films „Murer — Anatomie eines Prozesses“, folgendermaßen beschreibt: „Österreich hat keine Seele und keinen Charakter. Österreich besteht aus Tätern, Zuschauern und Opfern“. Auch wenn sich solche Diagnose auf die Zeit des Prozesses gegen den „Schlächter von Vilnius“, den steirischen Bauern Franz Murer, im Jahre 1963 beziehen mag, also auf die Zeit vor der Borodajkewycz- oder gar der Waldheim-Affäre, ist sie falsch und überheblich, desavouiert sie doch die Gegenkräfte, die WiderstandskämpferInnen z.B., die auch nach 1945 nicht aufgehört haben, für ihre antifaschistischen Ideen einzutreten. Das größere Problem ist aber der homogenisierende Blick auf Österreich als Gemeinwesen, denn von diesem kann man sich nun konsequenterweise nur distanzieren — eine Distanzierung, die als Grundlage politischen Handelns nicht gerade dienlich ist. In dem Murer-Film schaut das dann so aus, daß einer kompakten österreichischen Masse aus Geschworenen, Zuhörern, Richtern bis hin zum Staatsanwalt die kleine Gruppe der jüdischen Zeugen gegenübersteht, sowie ein Berichterstatter der „Arbeiter-Zeitung“ und eine jüdische Reporterin aus New York, diese ein wenig als Hannah Arendt stilisiert. Der Film verfährt freilich doch nuancierter, als die Aussage des Regisseurs vermuten läßt; so plagt den einen oder anderen Geschworenen das Gewissen ob der Gräuel, von denen die Zeugen glaubhaft berichten. Im übrigen bin ich der Meinung, daß Theodor Kramer eine Gedenkstätte in seinem Geburtsort Niederhollabrunnn verdient hätte. Konstantin Kaiser