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Joana Radzyner „Die gelbe Angst“ Eine Vergegenwärtigung Am 21. Februar 2018 fand im Republikanischen Club — Neues Österreich in Wien eine Lesung aus Tamar Radzyners Gedichtband „Nichts will ich dir sagen“ statt. Andrea Pauli las aus Tamars Buch, Konstantin Kaiser und Fritz Orter gingen auf wesentliche Aspekte ihres Schreibens ein. Joana Radzyner erinnerte sich an ihre Mutter. Für meine jüngere Schwester Olga und mich war sie einfach „mamusia“, die Mutter, der wir unsere kleinen und größeren Sorgen anvertrauten und die alle Wehwehchen kurierte. Dass Olga heute abend nicht hier sein kann, tut mir weh. Sie ist vor 19 Jahren zusammen mit ihrem Mann, ihrer erst achtjährigen Tochter und 15 weiteren Passagieren bei einem Flugzeugabsturz auf den Kapverdischen Inseln umgekommen. Olga war unser „Gedächtnisspeicher“. Sie kannte u.a. alle Lieder auswendig, die unsere Mutter uns vorgesungen hat, darunter auch solche, die sie für uns erfunden hatte. Olga war es auch, die den Begriff vom „Haus des stillen Dramas“ für unser Daheim geprägt hat. Ein Daheim, das uns Kindern mit polnischer Muttersprache, die ins Wiener Lyc£e francais zur Schule gingen, die Heimat war... In diesem Daheim weckten uns nachts immer wieder furchtbare Schreie. Schreie, von denen Mama tagsüber nichts mehr wissen wollte. In diesem Daheim herrschte das Verbot, „draußen“ von jenem Feiertag zu erzählen, an dem an zwei Abenden Kerzen angezündet wurden und anderes Geschirr auf den Tisch kam. Für den Schuster oder in der Putzerei am Eck waren wir die Familie mit den unverdächtigen Namen Kaiser oder Bauer. Von ihren nächtlichen „Dämonen“ erfuhren wir erst als Erwachsene. Ebenso habe ich erst vor wenigen Jahren in einem Stoß alter Papiere das noch im kommunistischen Polen der 1950 er Jahre verfasste, handgeschriebene Gedicht gefunden, dem sie den Titel „Die gelbe Angst“ gegeben hat. Gemeinsam mit Konstantin Kaiser haben wir es ins Deutsche übertragen. Hier einige Zeilen daraus: Der mir einmal aufgedrückte gelbe Stern treibt mir gelbe Angst durch die Adern Ich gehe zuckend wie angeschossen jahrtausendalte Angst in den Augen In der Schule waren wir als „ohne Bekenntnis“ eingetragen. Wir sollten, wie Mama uns später erklärte, keinen „jüdischen Buckel bekommen“. Wir sollten die „jahrtausendalte Angst“ nicht mehr weitertragen. Unsere Eltern waren Kinder aus begüterten, jüdisch-orthodoxen Kaufmannsfamilien im polnischen Vorkriegs-Manchester Lödz. Zuhause wurde polnisch gesprochen. Sie überlebten das Getto Lödz und die Konzentrationslager Auschwitz und Stutthof als Aktivisten einer noch im Getto entstandenen marxistischleninistischen Widerstandsbewegung. Und sie waren überzeugt, dass es im gleichmachenden Kommunismus keine Jüdische Frage mehr geben würde. Ein tragischer Irrtum. 1959 besteigen sie gemeinsam mit uns Kindern einen Zug nach Wien — ohne Riickfahrschein. Neun Jahre später, 1968, wurde unsere Mietwohnung in der Porzellangasse 27 zur Anlaufstelle für alle Freunde aus Polen, die im Zuge der antisemitischen Gomulka-Kampagne in Polen mit Berufsverbot belegt und zur Auswanderung gezwungen worden waren. Olga und ich mussten unser Kinderzimmer räumen, um den Gästen wider Willen solange Platz zu machen, bis sie nach langen Monaten der Unsicherheit und mittellos nach Israel auswandern durften. Meine Mutter hatte die Erfahrung des Exils schon früher gemacht. So heißt es in ihrem Gedicht „Porzellangasse“, das zuerst 1991 in der Anthologie jüdischer Lyrik aus Österreich „Wären die Wände zwischen uns aus Glas“ erschien: In meiner Heimat die mir keine Heimat sein wollte baute man bunte Häuser auf den Ghettoruinen Nachts glühten die Fundamente der Rauch stieg in die Augen es tonten die Osterglocken mit zerplatzten Lippen schrien wir Todesgebete Das hat die Nachbarn gestort in bunten neuen Häusern das hat die Ruhe gestört man hieß uns weitergehen In Österreich wollten meine Eltern ihre politische Vergangenheit und ihre jüdischen Traditionen vergessen. Mit einem Medizinstudium wollten sie sich eine neue Zukunft Zeichnung von Tamar Radzyner aufbauen. In „Gelbe Angst“ schrieb meine Mutter: Vergessen habe ich meinen Namen den Kerzenschimmer am Sabbat-Tisch Will durch kein Erinnern anders sein Mein Gedächtnis ist meine Einsamkeit Tamar begann sehr bald, ihre Texte, die sie übrigens lange Jahre vor uns geheim hielt, in deutscher Sprache zu verfassen. Oft mit schlimmen grammatikalischen Fehlern, die sie sich nur ungern korrigieren ließ, da diese Eingriffe den Rhythmus zerstören würden. Größere Anstrengungen investierte sie in das Erlernen der korrekten Aussprache des Umlauts „ä“ und vor allem des Umlauts „ö“... Aber Österreich blieb in ihrer Diktion bis zu ihrem Lebensende „ästerreich“. Juni 2018 5