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und tritt irgendwann und irgendwo zu Tage.“ „Ich denke, dass [die Menschen] schreibend näher an sich selbst herankommen können. Und durch das eigene Schreiben kann man sich die Welt der Literatur erobern. [...] Man kann eigene Erfahrungen nur in Besitz nehmen, wenn man sie erzählen kann.® [...] Ich glaube, daß man sich schreibend auf die Spur kommen kann [...] Ich bin überzeugt, daß Sprache auch das aufdeckt, was man mit ihrer Hilfe so kunstvoll wie eifrig zudecken möchte. Man muß allerdings schr aufmerksam sein, sonst bleibt es bei einem vagen Erkennen, als ginge man an einem Schaufenster vorbei und sähe sich aus dem Augenwinkel etwas verzerrt gespiegelt.“” Diese ihre in mehreren Essays und Gesprächen festgehaltenen Überlegungen sind zugleich sehr aufschlussreiche Beiträge zu einer gegenwärtigen/modernen „realistisch“-psychologischen Darstellungskunst, wofür ihr gesamtes Werk steht. „Ich glaube nach wie vor“, so sagt sie, „dass Sprachwelten die reale Welt mitund umgestalten können [...] Eine Wortwelt steht der Dingwelt gegenübes, vielleicht als Abbild, vielleicht als Zertspiegel, vielleicht als freundliche Gegend, in der Utopien gedacht werden können. [...] Literatur kann nicht realistisch, kann und muß aber wahrhaftig sein. Dann kann sie Wirklichkeit griffiger machen, ihr eine neue Dimension von Möglichkeit geben.“'” Voraussetzung dieser Darstellungskunst ist ein unentwegtes „Hinsehen und Hinhéren“", ein „Mosaiksteine“-Sammeln. Aber keine vorschnellen Schlüsse dürfen daraus gezogen, kein vorgestanztes literarisches Format soll verwendet werden. Wenn dieses Hinsehen und Hinhören „wirklich genau ist, geht es weit über das Stadium des Sezierens und Analysierens hinaus und ahnt ein Ganzes.“ Nicht zuletzt gehört es zum Selbstverständnis als Schriftstellerin, dass Renate Welsh ihre lebenslange Erfahrung, dass man „über manches, worüber man nicht sprechen kann, [schreiben kann]“, schon über ein ganzes Jahrzehnt hinweg in einem einzigartigen, von psychosozialem Ethos getragenen Projekt — im VinziRastCorti-Haus — weitergibt: Erzählen und Schreiben als Instrumente Peter Paul Wiplinger Die Zeit liegt im Niemandsland Gedanken zu Nahid Bagheri-Goldschmied Mein Herz ist/ zwischen zwei Dächern und zwei Himmeln,! ein gefangener Vogel. So lautet der Vers eines Gedichtes der persischen Lyrikerin, Schriftstellerin und Publizistin Nahid Bagheri-Goldschmied, die nach Vertreibung und Flucht aus ihrer Heimatstadt Teheran seit 1980 in Österreich im Exil lebt. Emigration war die einzige Möglichkeit, um sich vor willkürlicher, aber systematischer Verfolgung, Verhaftung, Kerker, Folter und möglicherweise dem Tod zu retten; dem geliebten Heimatland zu entllichen, das zur Galgenrichtstätte einer alles unterdrückenden Gottesstaatsdiktatur verkommen ist. Flucht als einzig möglicher Weg zur Freiheit. Flucht in ein Niemandsland, in das Ausgesetztsein in der Fremde, in die Einzelhaft wie in einem luftleeren Raum, ohne Boden unter den Füßen. Flucht und Emigration als ein Weggehen, ein Weggehen in ein fremdes Land, das nur ein Aufenthaltsort, aber niemals (zweite) Heimat werden kann. Ein Leben im Ausgesetztsein zwischen Himmel und Erde, als im Hin- und Hergerissensein zwischen 38 ZWISCHENWELT der innerlich befreienden Selbstwahrnehmung, der stärkenden Selbsterfahrung, eine Art Halt stiftendes, aber auch zumindest zeitweise seelische Last minimierendes Emanzipationsprojekt — bestimmt von ihrer „hartnäckig“ vertretenen Überzeugung, dass „der Bleistift in der Hand [...] die Funktion eines Wanderstabs [gewinnen kann], auf den man sich stützen kann, wenn man Gefahr läuft, allzu gefährliches Gelände zu betreten. “'? Anmerkungen 1 Etwa: Das Gesicht im Spiegel (1979); die Serie der Vamperl-Erzählungen seit 1979 (Das Vamperl, 20. Aufl. 1998; Vamperl soll nicht alleine bleiben 1992, Widersehen mit Vamperl 1998 — Das große Buch vom Vamperl 2002); Constanze Mozart, eine unbedeutende Frau (1990); Johanna (1979); Drachenflügel (1988); Das Haus in den Bäumen (1993); Das Lufthaus (1994); Disteltage (1996); Besuch aus der Vergangenheit (1999); Dieda oder Das fremde Kind (2002); Liebe Schwester (2003); Die schöne Aussicht (2005); Großmutters Schuhe (2008); Dr. Chickensoup (2011). 2 Renate Welsh: Geschichten hinter den Geschichten. Innsbrucker PoetikVorlesung. Innsbruck 1995. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. Sonderband), S. 28. 3 Renate Welsh: Rede anlässlich der Verleihung des TKG-Preises für Schreiben im Widerstand und Exil am 9.9.2017. Unter dem Titel „Das große Problem der Sprachlosigkeit in unserer Zeit“ in: ZW Nr. 3/2017, S. 4-5. 4 Renate Welsh: Ausgerechnet Schreiben? In: Dies. (Hg.): Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen. Texte aus der Schreibwerkstätte im VinziRast-CortiHaus. Wien: Wiener Dom-Verlag 2013, S. 155. 5 Renate Welsh: Das Lufthaus. Roman. Graz: Styria 1994, S. 347. 6 Renate Welsh: Großmutters Schuhe. München: DTV 2008, S. If. 4R. Welsh, wie Anm. 2, $. 9. 7 Interview von Friederike Liebl mit Renate Welsh. In: Die Presse. PrintAusgabe, 22.12.2013. 8 R. Welsh, wie Anm. 2, S. 16. 9 Ebenda, S. 14. 10 Interview von E Liebl mit R. Welsh, wie Anm. 5. 11 Ebenda. 12 Renate Welsh, wie Anm. 4, S. 154. zwei Welten, ja sogar zwischen zwei Himmeln; ein gefangener Vogel, der nur einen neuen Käfig, aber keine zweite Heimat als Ersatz für die erste, die eigentliche, die aufgegebene, die verlorene Heimat gefunden hat. Seither, das heißt: lebenslang, ein Leben in der Fremde, in der Unbehaustheit, auch in der des eigenen Ichs, des eigenen Seins. In ihrem Roman „Chawar“, 2009 von der Theodor Kramer Gesellschaft herausgegeben, zeichnet Nahid Bagheri-Golschmied in der Geschichte des Mädchens Chawar ihr Leben und Vorleben in ihrer Heimatstadt Teheran nach. Sie berichtet vom Aufwachsen in einer streng patriarchalisch geprägten Großfamilie und den herrschenden, ja alles beherrschenden Traditionsgesetzen als Lebensgesetzen in jener Zeit vor der Islamischen Revolution, in der Zeit des diktatorischen Reza Pahlavi-Schah-Regimes, in dem ebenso Willkür, Unterdrückung, Gewalt samt Folter und Mord gehertscht haben wie später und bis heute unter Chamene'i und seinem Mullah-Regime samt ihren Revolutionswächtern in