OCR
Vladimir Vertlib Geschichte hinter den Geschichten Literaturhaus Salzburg, 12. September 2017: Laudatio für Renate Welsh-Rabady „Ich glaube immer noch, dass alle wirklichen Probleme nur radikal, also von der Wurzel her gelöst werden können“, sagt Renate Welsh. Diese Radikalität, nämlich als gleichsam leidenschaftlicher wie einfühlsamer, unprätentiöser und dennoch stets kompromissloser Versuch, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu benennen, an der Wurzel zu packen und - dort, wo es notwendig und möglich ist - zu verändern, prägen seit Jahrzehnten sowohl das Schreiben als auch das pädagogische und soziale Engagement der Schriftstellerin Renate Welsh. Der Poetik-Vorlesung mit dem Titel Geschichten hinter den Geschichten, die Renate Welsh im Jahre 1994 an der Universität Innsbruck gehalten hat, ist das obige Zitat entnommen. Damals sagte sie auch: „Gewiss hat die Sprache selbst ihre Grenzen.“ Aber: „Ich denke, dass das Schweigen mitschwingt, wenn wir mit der Sprache behutsam und achtungsvoll umgehen. [...] Dann kann Sprache auch mithelfen, Nähe zu erzeugen und Wärme und Mauern aufzubauen gegen wirkliche Bedrohung, nicht gegen den Anderen, Fremden.“ Dies kann man sowohl als Anspielung auf historische wie auch - und dies in höchstem Maße - auf aktuelle politische Ereignisse lesen. Denkt man an persönliche Verletzungen und Befindlichkeiten, ist die Aussage immer gültig, zeitlos wie die Macht der Sprache selbst, mögen auch die historischen Rahmenbedingungen einem steten Wandel unterworfen sein. Sehr oft hängt beides zusammen: Das Persönliche und das Politische, Geschichten und Geschichte sind miteinander verwoben. Das Schweigen der Nachkriegsjahrzehnte und der Fremdenhass von heute haben andere Ursachen, aber dieselbe Wurzel. Die Unfähigkeit, Nähe aufzubauen, menschliche Wärme zu geben, zu empfinden oder anzunehmen, lässt Verletzungen und Verletzbarkeit erahnen, führt zu Verhärtung und Aggression gegen den Anderen, den Fremden, wobei manchesmal die eigene Schwester genauso fremd (oder vertraut) sein kann wie der Flüchtling aus einem anderen Kulturkreis. Ob Schweigen nun Stille bedeutet oder durch laute Worte zugedeckt wird - als Ausdruck des Wesentlichen bleibt es ständig präsent. Wer wie Renate Welsh dem Verborgenen, dem Verdrängten und Nichtgesagten Sprache verleiht, dem Unausgesprochenen Gültigkeit, Rahmen und Konturen gibt, macht die ambivalente Kehiseite des scheinbar Offensichtlichen und Aufdringlichen erst erkennbar, im besten Fall sogar erklärbar. Dann führt menschliche Nähe zu Sicherheit, Wärme erzeugt Kraft, und die notwendigen Schutzmauern, die wir aufbauen, sind niemals aus Ziegeln, Beton oder Stacheldraht gefertigt. Renate Welsh-Rabady wurde als Renate Redtenbacher, Tochter des Arztes Norbert Redtenbacher, am 22. Dezember 1937 in Wien geboren. Ihre Mutter starb, als das Kind vier Jahre alt war. In den nächsten Jahren waren die Großeltern für Renate der wichtigste Halt, doch auch der geliebte Großvater starb, als die Enkelin noch sehr jung war. Diese frühen Erfahrungen von Verlust und Trauer, die Erlebnisse während des Krieges und der Nachkriegszeit in Wien und Aussee, die aus einer teilweise jüdischen Herkunft resultierende Gefahr während der NS-Diktatur, Angst und Schuldgefühle 40 ZWISCHENWELT waren prägend für das Kind. Die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen und Verletzungen sind oftmals direkt oder verschlüsselt, das eine Mal erkennbar autobiographisch geprägt wie zum Beispiel in Dieda oder Das fremde Kind, das andere Mal literarisch „verfremdet“, aber stets deutlich spürbar, im Werk der Autorin Renate Welsh zu finden. „Das kleine Mädchen, das ich war“, erzählte sie während ihrer Innsbrucker Poetik-Vorlesung, „ist mir durch mein Schreiben und durch die ständige Auseinandersetzung mit anderen Kindern nähergekommen.“ 1955 beginnt Renate Welsh ein Studium der Anglistik, Romanistik (Spanisch) und Staatswissenschaften an der Universität Wien. Ein Jahr später heiratet sie, bricht das Studium ab, bringt drei Buben zur Welt, arbeitet als Übersetzerin, unter anderem für das British Council in Wien. Seit Ende der 1960er Jahre schreibt sie Kinder- und Jugendbüches, seit Ende der 1980er Jahre auch Bücher für Erwachsene. In den Siebzigerjahren gehört sie mit Mira Lobe, Christine Nöstlinger, Friedl Hofbauer und anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern jener Gruppe engagierter Kinder- und JugendbuchautorInnen an, für die Widerständigkeit und Selbstbehauptung, soziales Engagement und Sprachspiel zu den wichtigsten Elementen ihres Schreibens zählen. „Wir kamen aus verschiedenen politischen Richtungen“, erinnert sich Renate Welsh, „aber uns einte das Bedürfnis, Kinderliteratur zu machen, die Mut macht und sagt: Ihr dürft so sein, wie ihr seid. Emanzipatorisch und ohne Zeigefinger. Damals herrschte ja die Meinung vor, Kinderbücher müssen nicht unbedingt literarisch hochwertig sein. Wir sagten, sie müssen umso mehr literarischen Kriterien genügen!“ Seit 1969 sind mehrere Dutzend Kinder- und Jugendbücher sowie zahlreiche Romane und Erzählungen für Erwachsene sowie Übersetzungen aus dem Englischen von Renate Welsh erschienen. Außerdem schreibt sie Hörspiele und fungiert als Herausgeberin. Seit vielen Jahrzehnten leitet Renate Welsh Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, unter anderem auch für die Bewohnerinnen und Bewohner des VinziRast-Corti Hauses, einer Notschlafstelle in Wien. Sie macht Lesungen und hält Vorträge im In- und Ausland, auch in solch entfernten Ländern wie zum Beispiel Iran oder Armenien, und ist seit 2006 Präsidentin der Interessensgemeinschaft Österreichischer Autorinnen und Autoren. Renate Welshs Kinderbuch Das Vamperl, die Geschichte von dem netten kleinen Vampir, der Menschen böse Gefühle und Aggressionen aussaugt, und der Jugendroman Johanna über eine junge Frau, die in den 1930er Jahren als Magd unter menschenunwürdigen Bedingungen auf einem Bauernhof in Niederösterreich aufwächst und mit viel Mut für ihre Freiheit und Selbstbestimmung kämpft, beide zuerst 1979 publiziert, sind sowohl Best- als auch Longseller und gelten als Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Für Johanna erhielt Renate Welsh den renommierten Deutschen Jugendliteraturpreis fiir das Jahr 1980. Neben diesem Preis wurden ihr im Laufe der Jahre sehr viele andere zuerkannt, darunter der Österreichische Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur 1977, 1978, 1984, 1989, 1997 und 2003, der Kinder- und Jugendpreis der Stadt Wien (ebenfalls mehrfach), der Preis der Stadt Wien für Literatur 2016...