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Es freut mich sehr, dass Renate Welsh nun auch mit dem Theodor Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil ausgezeichnet wird. „Kinder, Jugendliche, Frauen, Menschen am Rande, Außenseiter und Ohnmächtige einer Gesellschaft stehen im Zentrum ihres Werks“, heißt es in der Preisbegriindung. „Renate Welshs Texte, gespeist aus einem tiefen differenzierten Wissen um den beklemmenden Geschichtsprozess, sind ein seit Jahrzehnten unablässig formuliertes Plädoyer für Achtung, Respekt, Gerechtigkeit. Für ein besseres Leben.“ Dieses Plädoyer ist heute wichtiger denn je. „Die Lage“, sagt Renate Welsh, „ist zu ernst und die Herausforderung zu groß, um sich im Pessimismus häuslich einzurichten.“ Das erste Buch, das ich von Renate Welsh las, war der 1994 erschienene Roman Das Luffhaus. Hauptperson dieses historischen Romans, dessen Handlung Mitte des 19. Jahrhundert spielt, ist Pauline, Tochter einer jüdischen Großbürgerfamilie aus Karlsruhe, die den nichtjüdischen österreichischen Studenten Max Gritzner, einen Ur-Urgroßonkel von Renate Welsh, heiratet, nach Wien zieht, zum christlichen Glauben übertritt, sich unterordnet und dennoch nie und nirgendwo wirklich dazugehört. Aufgerieben zwischen Selbstaufgabe, Identitätsverlust, dem schwachen Ehemann, dem dominanten Schwiegervater und dem Wunsch, es allen recht zu machen, den Vorurteilen ihrer Zeit und einem Anspruch, dem sie nicht gerecht werden kann, scheitert Pauline. Sie „sitzt nicht nur zwischen allen Stühlen, sie balanciert [als Frau, als Jüdin, als Konvertitin, als Zugereiste] verzweifelt auf den Sessellehnen“, schrieb ich damals in meiner Rezension des Romans für die Zeitschrift Mit der Ziehharmonika (heute Zwischenwelt). Doch „wenn die Lektüre eines Buches [...] immer auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst darstellt, so kann ich — nachdem ich Emigration und Außenseitertum selbst erleben musste - nach diesem Buch, trotz und vielleicht gerade wegen der bedrückenden Ereignisse, die es schildert, um eine Spur freier atmen.“ Dies gilt nicht nur für Das Lufthaus, sondern gleichermaßen für viele andere Bücher von Renate Welsh als Leitmotiv: Welsh erschafft Romanfiguren, die Prototypen im realen Leben haben, Menschen, über die sie recherchiert oder denen sie lange aufmerksam zugehört hat, denen sie mit Empathie und Anteilnahme begegnet ist, Menschen, die als Unbemerkte, oft als Verlierer, in einem gesellschaftlichen Zwischenraum und im inneren Exil leben, die aber auch dann, wenn sie scheitern, wenn sie als brüchige und keineswegs immer positive Charaktere beschrieben werden, den aufmerksamen Leserinnen und Lesern dennoch ein Gefühl der Befreiung und nicht der Beklemmung verschaffen: Sei es, weil die Figuren so differenziert dargestellt sind, dass man darin verborgene Anteile von sich selbst oder von anderen Menschen, die man kennt, entdeckt, Eigenschaften und Erfahrungen, deren Benennung und Sichtbarmachung befreiend wirkt; sei es, weil weder Haupt- noch Nebenfiguren jemals denunziert werden, sondern mitfühlend, manchmal ironisch und mit Witz, hin und wieder auch mit spürbarem Tadel gezeichnet werden, doch niemals als Typen oder gar Karikaturen, also als reine Träger bestimmter Haltungen oder Charaktereigenschaften. Dies gilt im besonderen Maße für Johanna, Renate Welshs erfolgreichstes Buch, und für den 2005 erschienenen Roman Die schöne Aussicht. Das reale Vorbild für die Protagonistin Rosa in Die schöne Aussicht hat Renate Welsh viele Jahre gekannt. Das jüngste Kind einer Gastwirt-Familie in Wien, ein ungewollter und ungeliebter Nachzügler, erlebt Not und Elend der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit aus der Perspektive einer Außenseiterin, deren kleines Glück stets vernichtet wird, che es noch richtig angefangen hat: Ihr Freund stirbt bei einem Unfall, ihre Lehrherrin, die für sie zu einer Art mütterlichen Freundin geworden ist, muss als Jüdin vor den Nazis flüchten. Härte, Gefühlsarmut, Antisemitismus, Alltagsfaschismus prägen die Welt der „kleinen Leute“, in der Rosa lebt. Sie selbst ist Opfer dieses Umfelds und wird davon doch auch selbst geprägt. Über politische und soziale Fragen reflektiert sie nicht. Sie hat ihre dunklen Seiten, sie ist stumm, verhärtet, doch gelingt es Renate Welsh den Facettenreichtum von Rosas Charakter darzustellen, aus ihr eine einmalige literarische Figur zu machen und gleichzeitig den Aberwitz und die Abgründe ihrer Zeit - den Faschismus in seinen vielfältigen Formen und Ausprägungen — zu exemplifizieren und dabei die immerwährende Präsenz der Vergangenheit und ihre Bedeutung für die Gegenwart aufzuzeigen. Zum Abschluss dieser Laudatio möchte ich auf ein Buch hinweisen, das mir persönlich besonders am Herzen liegt. Es ist 2013 erschienen, heißt Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen und beinhaltet Texte aus der von Renate Welsh (seit vielen Jahren und auch heute noch) geleiteten Schreibwerkstätte für chemalige Obdachlose, die in der schon erwähnten VinziRast in Wien eine Bleibe gefunden haben. Renate Welsh hat das Buch herausgegeben. Sie hat die Texte ausgewählt, redigiert und ein Nachwort geschrieben. „Ich höre zu, das ist im Grunde genommen alles“, erzählt Renate Welsh. „Ich höre zu und freue mich über jeden Beitrag, den die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bringen, lese ihnen manchmal vor, was sie geschrieben haben, wiederhole oft einen Gedanken und schlage vor, dass wir ihn gemeinsam näher anschauen. Dabei fällt manchmal ein Lichtstrahl in anscheinend undurchdringliches Dickicht. Vor allem aber breitet sich das Zuhören wellenförmig aus, erfasst, wenn ich Glück habe, die ganze Gruppe. [...]“ „Die Wahrheit ist bitter, aber nicht giftig“, schrieb eine der Teilnehmerinnen. Eine andere dichtete: „Dein Herz ist kalt. Warum? Wohin gehst du, kalte Zeit? Ich habe Angst, du kalter Engel.“ In einem anderen Gedicht von ihr heißt es: „Egal, was du bist, Engel oder Teufel, Du bist Ich! Beides, schwarz und weiß. Ich kann dich nicht verlassen.“ „Ausgerechnet Schreiben mit Menschen, die wahrlich andere, existenziellere Sorgen haben?“, fragt die Autorin im Nachwort zu Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen und beantwortet diese Frage sogleich mit einem deutlichen: „Ja, ausgerechnet Schreiben. Weil diese Menschen etwas zu sagen haben, nach dem sie kaum je gefragt wurden, und weil das, was sie zu sagen haben, wichtig ist.“ Eine Teilnehmerin der Schreibwerkstätte brachte es auf den Punkt, als sie Renate Welsh erklärte: „Du machst Fenster auf, wo es keine gibt.“ Das ist ein Satz, an dem sich die Autorin anhalten kann, der Kraft gibt, aber auch ein Satz, der als Metapher für das gesamte Lebenswerk von Renate Welsh verstanden werden kann. In gekürzter Form erschienen am 15.12.2017 im „Spectrum“ der Tageszeitung „Die Presse“ (Wien). Juni 2018 41