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Günther Anders Zehn Thesen zur Erziehung heute 1. These: Schulen sind nur Annexe einer größeren Schule Keine, selbst die abgeschlossenste, ist eine Insel. Denn was an erster Stelle den Jugendlichen beeinflusst, bildet, verbildet oder verroht, ist die „Welt“; und nicht etwa „Welt“ nur im Sinne der „Anderen“; sondern im Sinne von „Schicksal“: das aus unaufzählbaren Faktoren zusammengesetzte Ganze von: wie es einem geht und ging; wie das Leben mit einem umgeht und umging; was man zu essen hatte und hat; was man tun musste und muss, um zu leben; was man zu hoffen hatte und hat. Aber selbst, wo alle diese Schreckfragen keine Krisisfragen sind, wie heute, ist es die „Welt“, das heißt: nicht die Beeinflussung durch Einzelmenschen, die „Bildung“ und „Erziehung“ ausmacht, wenn man „Bildung“ und „Erziehung“ im weitesten, nicht nur schulmäßigen, Sinne versteht, also als (positive, negative oder selbst ruinöseste) Prägung des Menschen. Denn entscheidend ist eben — und heute mehr denn je dass diejenigen Mächte, die den Menschen formen oder entformen oder entmenschen, obwohl ursprünglich vom Menschen gestiftet, doch unmenschlich oder übermenschlich geworden sind. — Erziehung und Bildung, im engen und eigentlichen Sinne, ist entweder Bundesgenosse der Welt oder Konkurrenz der Welt oder (zumeist erfolgloser) Widerpart der Welt. Eine Erziehung oder Lehre, die sich nicht im Klaren ist über ihre Position innerhalb des Erziehungs-Ganzen, ist also fragwürdig. 2. These: Lernen zerstört die Sanktionierung der Gewalt Eine Erziehung, die sich über ihre Funktion nicht im Klaren ist, ist zwar fragwürdig; dennoch ist sie alles andere als sinnlos: Denn in einem Zustand wie dem heutigen, da Millionen, besonders der jüngeren Generation, Gewalt als einzige, mindestens als letzte Sanktion anzuerkennen gelernt haben, bietet selbst ziellosestes Lehren und Lernen von Wahrheiten eine sehr bestimmte Chance: nämlich die, den Blick zu öffnen in eine Landschaft, in der keine Gewalt der Erde aus drei mal drei Zehn machen kann. 3. These: Erziehung setzt drei Weltbegriffe voraus Dass Erziehung, jede Erziehung, eine Idee, ein Bild vom Menschen voraussetze, ist eine triviale Wahrheit. Aber die Wahrheit ist unzulänglich. Erziehung setzt auch ein Bild der Gesellschaft voraus, oder genauer: drei Bilder. 1. Das Bild der Gesellschaft, wie sie ist. 2. Das Wunschbild einer besseren Gesellschaft. 3. Das Bild der morgigen Gesellschaft, die weder mit der bestehenden identisch ist, noch mit der idealen. Wer nur für die erste erzieht, erzieht Gleichschalter. 42 2WISCHENWELT Wer nur für die zweite erzieht, erzieht Träumer. Wer für die dritte erzieht, erzieht Menschen. 4. These: Kritik und Freiheit sind Geschwister Gewöhnlich setzte „Bilden“ ein verhältnismäßig formungsfähiges und formungsbedürftiges Material voraus. Heute dagegen ist gerade „Entformung“ die Hauptaufgabe der Bildung geworden. „Entformung“ bedeutet: Die Auflösung der starren Form, in die der Nationalsozialismus den Menschen durch ständige Behämmerung gebracht hat. Die Arbeit des Aufschmelzens ist alles andere als bloß „Negation“ oder „Zersetzung“. Wer einen Erfrorenen auftaut, tut Positives; und nichts ist schwieriger als das, angeblich „negative“, Auftauen; unvergleichlich viel schwieriger als das sofortige und unbedenkliche Heranbringen fertiger, angeblich oder wirklich „positiver“ Erkenntnisse an die Unaufgetauten. Der innere Widerstand gegen die Begriffe „Negation“ oder „Kritik“ gehört selbst zu den starren Erbstücken des Nationalsozialismus, die aufgetaut werden müssen. Denn Kritik ist das Gegenteil von Gleichschaltung. Während der Nationalsozialismus „aufbaute“, um mit Menschen, Menschenwürde, Ländern, Städten, Hoffnungen und Plänen aufzuräumen — haben wir aufzuräumen, um aufzubauen. Auf nicht abgetragenen Etagen kann man keine Gebäude aufführen. Dass die klassische Formulierung der „Freiheit“ des Menschen in deutscher Sprache „Kritik der praktischen Vernunft“ hieß, war kein Zufall: Denn Kritik und Freiheit sind Geschwister. In der Tat waren die meisten positiven Bewegungen der Weltgeschichte „Kritiken“. Sokrates räumte auf mit der Beliebigkeit der bloßen Meinungen, um für Begriff und Wissenschaft Raum zu schaffen; Paulus mit dem bloßen Ritual („Gesetz“), um dem Glauben und der Menschenliebe Luft zu gewinnen; Kant mit der Pseudometaphysik, um Menschenwürde und Freiheit an den ihnen gebührenden Platz setzen zu können. Wäre es heute nicht so furchtbar missverständlich, so dürften wir beinahe sagen: „Aufbauen ist leicht — aber zerstören.“ — Denn die Zerstörung (die Zerstörung der Kräfte, die den Menschen als Menschen zerstören), die Wiedererweckung des Zweifels, d. h. das Wieder-in-Gang-Bringen des Selberdenkens, des Selberfühlens, des Selberbeobachtens — das ist heute die wesentliche Aufgabe. — Das ist leicht gesagt. Darum ein konkretes Beispiel: Man vermeide im Unterricht strikt die Benutzung des nationalsozialistischen Vokabulars. Dass dieses rein pragmatisch war, dazu erfunden war, um entweder die Sicht auf die Wahrheit abzudecken; oder um hinter ihm, wie hinter einer Fahne, die Hörenden zu sammeln und zu Wort-Hörigen zu machen; kurz: dass es nicht um der Wahrheit willen da war, dessen haben sich die Nazis selbst gerühmt. Nun bezeichnen zahllose Naziworte bloße Phantome. Wenn wir die Phantomworte abschnüren, wird auch das Gefühl für die angebliche Realität des in den Worten angeblich Bezeichneten