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zeifallen. Freilich kann solch ein Zerfall nur langsam vor sich gehen. Denn der Mensch sagt nicht, was er denkt und fühlt; sondern er denkt und fühlt, was er sagt, und wie er es sagt; selbst wenn das zu Sagende ihm aufgezwungen wird. Oft wird die Vokabel-Abschnürung, die wir empfehlen, so etwas wie eine sprachliche Atemnot zur Folge haben: Schüler und auch Lehrer werden den nackten Dingen oder den wortentblößten Ereignissen gegenüberstehen und sie nicht fixieren können, weil ihnen die, noch so entstellende, Wortbrille fehlt, die ihnen so natürlich wurde, wie dem Brillenträger seine Brille. Aber gerade solche Atemlosigkeit ist, wenn durchgeführt, eine wirkliche Chance. Sie zwingt, die Sache selbst anzuschen und das „Vor-Urteil“, das in der Bezeichnung lag, zu entkräften: Die Gelegenheit für eigene Beurteilung ist hergestellt. Aber seien wir nicht unbescheiden: Dass, was am Anfang als „eigenster Gedanke“, als „eigenstes Gefühl“, als „eigenste Beobachtung“ auftauchen wird, fremdes Strandgut sein wird, das ist nur selbstverständlich. Was heißt denn „Eigenstes“? Das Wort selbst wäre eine ganze Philosophie wert. Man bedenke, dass auch die, von Anderen geschlagene, Wunde wirklich die „eigene“ Wunde ist; dass das von Anderen in die Seele eingeschlagene SchlagWort wirklich „eigenes“ Wort wird. Man erwarte also nicht, dass jeder gewissermaßen nur einen Kopfsprung „in die eigene Tiefe“ zu machen brauche, um sich selber zu erreichen; oder dass sich jeder eine Heideggersche „Eigentlichkeit“ mir nichts, dir nichts, rasch einmal ertrotzen könne. Jeder ist auch — die Anderen. So entmutigend das klingt, die Tatsache ist auch unsere Chance. Denn nur darum gibt es auch Erziehung, Bildung und Lehre: „Zueignung“ und „An-eignung“. Aber was ich mir aneigne, soll nicht nur in dem Sinne „mein Eigen“ sein wie „meine eigene Wunde“, sondern wie der eigene Leib, der sich aufbaut aus Anderem, und dennoch meiner ist. 5. These: Ziel der Erziehung ist Gesittung Ziel der Erziehung ist weder bloßes „Wissen“, noch bloße „Fähigkeit“, noch bloßer „Charakter“, sondern die, aus den erzogenen Menschen entstehende Welt selbst: eine gesittete Welt. Das ist wieder einmal leicht gesagt. Denn die Welt selbst ist (mit ihren Institutionen und Verhältnissen) der, Körper gewordene, „Behandler“ der Menschen, also die Werkstätte der Sitte geworden; und sogenanntes „sittliches Handeln“ (das viel zu enge Objekt der „Ethik“) besteht in Wahrheit zum größten Teile aus Behandeltwerden oder aus „Antworten“ auf Behandeltwerden; findet mindestens immer im Rahmen des Behandeltwerdens (durch die Welt) statt. — Das heißt: Die „Einrichtungen“ sind die eigentliche „Wirklichkeit“ der Gesittung; und die sind der Erziehung vollständig entzogen. Dieses Problem ist natürlich nicht neu: Die heroische Kantische Moralphilosophie litt an ihm Schiffbruch; insofern Schiffbruch, als sie als Leitprinzip des Handelns nicht benutzt werden konnte. Denn ihr Imperativ verlangte vom Einzelnen, sich so zu benehmen, so zu handeln, als ob er sich in einer „moralischen Welt“ befände. Aber die konkrete Forderung, aus der unmoralischen Welt eine Welt zu machen, in der moralisch zu leben vielleicht möglich wäre, die konnte Kant in der speziellen geschichtlichen Situation, in der er schrieb, nicht erheben. Kein Wunder, dass die, in der Zeit unserer Väter noch so geläufige Kategorie des „Ideals“ uns so befremdlich geworden ist; eben weil die „ideale Welt“, wie sie bei Kant oder Schiller auftaucht, weder bloß als sinnloses Traumgespinst, noch einfach als etwas wirklich (d. h. politisch) Herzustellendes gemeint war, sondern als etwas eigentümlich Dazwischenliegendes: als ein Prinzip für das wirkliche Handeln des Einzelnen, der so leben soll, als wenn er wirklich in einer besseren Welt lebte. — Hegels Schritt über Kant hinaus, seine Einsicht, auf Grund derer er von dem unsoliden Stoffe der bloßen Moral zur Rechtsphilosophie fortschritt, weil im „Recht“ die Moral sich zum „objektiven Geiste“ verfestigt habe, darf nicht verloren gehen. Aber sie darf auf keinen Fall bedeuten, dass uns Institutionen auf Grund ihrer Wirklichkeit „moralisch“ seien. Das war die Terrorthese des Nationalsozialismus gewesen. Unsere Einsicht hat umgekehrt zu lauten: In einer, institutionsmäßig unsittlichen Welt ist Erziehung zur Sittlichkeit oder der sittliche Akt des Einzelnen selbst etwas Unzulängliches: im schlimmsten Fall eine Farce; im besseren Fall Heroismus; im besten reelle Opposition. Aber (von der Farce ganz zu schweigen) weder Heroismus noch Opposition können natürlich allgemeine Erzichungsziele sein — es sei denn, man rechne mit einer institutionell so „unmoralischen“ Welt, wie etwa der nationalsozialistischen, wo Widerstand und Moral zusammenfällt. Aber als allgemeines Erziehungsziel und -schema ist das natürlich 1. unmöglich, weil kein politisches System sich durch sein eigenes Erziehungssystem sabotieren würde; und 2. sinnlos, weil der Sinn der Moral und der moralischen Erziehung ja gerade in der Allgemeinheit des Zusammenlebenkönnens liegt. Damit ist gesagt: Wirkliche Erziehung und wirkliche Moralität ist möglich nur innerhalb eines bereits sittlichen Weltsystems. In einem schlechten System ist Moral so tragisch sinnlos wie die Anwesenheit eines gütigen Menschen, der in einem Vernichtungslager angestellt ist: er kann nicht moralisch handeln. Die Bedingung für wirkliche Moralität liegt also außerhalb der Erziehung. Aber wer diese Bedingung, und die Herstellung dieser Bedingung nicht im Auge behält, der wird eines Tages als „bloßer Wortemacher“ vor sich selbst stehen. (Pantapasi logos, Plato, Siebenter Brief, 328 e) 6. These: Lehren ist eo ipso Erziehen Denn es zwingt den Lernenden, sich auf etwas zu konzentrieren, was nicht in unmittelbarer Nutzbeziehung zu ihm steht; also „von sich selbst zu abstrahieren“; die Macht von Argumenten und Tatsachen anzuerkennen, statt die Tatsache „Macht“ als Argument anzuerkennen. Daher ist jedes Spezialstudium nicht nur (aus nicht weiter erörterungsbedürftigen Gründen) nötig, sondern auch moralisch von höchster Wichtigkeit. — Trotzdem ist natürlich Spezialisierung eines der heikelsten moralischen Probleme: Wer nur in seinem Felde und an seinem isolierten Problem arbeitet (selbst der „Anständigste“); wer sich als Spezialist um die Verwendung der Resultate seiner Arbeit nicht kümmert; wer die moralische Veranwortung für die Verwendung seiner Arbeit ablehnt (nein, nicht ablehnt, sondern wer dieser Verantwortung nicht nachrennt), der wird bald auf „unschuldige Weise“, nicht durch Tun, aber doch durch Unterlassung, schrecklich mitschuldig. — Facharbeit bringt eine entsetzliche Arbeitsteilung von Leistung und Verantwortung mit sich. Die „Beschränkung“ auf ein Feld wird zur Einschränkung der Verantwortung, jedenfalls als solche benutzt. Daher ist es eine Juni 2018 43