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der wichtigsten Aufgaben der moralischen Erziehung, die, durch Spezialisierung entstehende, Beschränkung ständig aufzuheben und den „Horizont zu erweitern“. 7. These: Horizonterweiterung ist keine bloB intellektuelle Aufgabe, sondern eine moralische Der Ausdruck bezeichnet die Aufhebung unserer moralischen und emotionalen „Beschränktheit“. Damit ist das Folgende gemeint: Jede Erziehung hat auszugehen von der Tatsache, dass die, unseren diversen Fähigkeiten entsprechenden Horizonte verschieden weit sind; dass jeder von uns dadurch in mehrere Wesen mit verschiedenen Welten zerfällt ist. Beispiel: Was wir zum Beispiel tun können (etwa durch die modernsten Waffen) ist weit mehr, als was wir nachfühlen können; was wir aber nicht nachfühlen können, das tun wir skrupellos, weil die, mit der „zu großen Tat“ verbundene, Verantwortung zu groß ist, als dass sie vom Herzen überhaupt gefasst werden könnte; daher machen uns solche Taten auch keine „inneren Schwierigkeiten“. Der vom Herzen „fassbare“ Mord an Einem erzeugt Reue, die „Liquidierung“ von Tausend keine. Also: Als Fühlende und als Verantwortende sind wir uns als Tuenden nicht gewachsen. Ein entscheidender Teil der Unmenschlichkeiten, die im letzten Jahrzehnt geschehen sind, ist aus dieser Inkongruenz der Horizonte des Menschen zu verstehen. Die Erweiterung des nicht nur intellektuellen Horizontes; das „Eine-Welt-Gefühl“, der Versuch, im gleichen Umkreis „wir“ sagen und fühlen zu können, in dem wir Menschen tatsächlich kommunizieren und in gegenseitiger Abhängigkeit stehen, kurz: die Kongruierung der Horizonte, das ist die entscheidende Erziehungsaufgabe von heute. Die Aufgabe ist eigentlich so alt wie die ökumenische Idee. In Deutschland ist sie akuter als irgendwo sonst: Denn nirgends war „Fremdes“, „Universales“, „Humanes“ (also weiter Horizont) so grundsätzlich bekämpft worden, wie im national-solipsistischen Nazi-Deutschland, das Polen oder Juden oder Zigeuner unter den universalen Begriff „Mensch“ einzubeziehen ablehnte, ja, als „unmoralisch“ bestrafte. Die Idee der Horizonterweiterung ist ein wirklich klassisches Erbstück, übernommen vom Christentum, vom Naturrecht, von der Philosophie der bürgerlichen wie der nachbürgerlichen Revolution: Sie alle setzten sich ein für die Würde des Menschen als Menschen, wer immer, wo immer, wie weit immer er war. 8. These: Nihilismus ist heute keine bloße Theorie und kann mit Appell an „Wert“ nicht bekämpft werden Niemals begann Erziehung mit etwas vollkommen Ungeformten. Immer hatte die „Sitte“ schon vorgearbeitet; immer war es schon „vorgeprägte Form“ gewesen, die „lebend entwickelt“ wurde. Heute — wohl zum ersten Male in der Geschichte — hat man neben dem Typ der, in starrste Form geprägten, Menschen der anderen, der völlig entformten vor sich: Menschen, die in totale Sitte-losigkeit (nicht nur „Sittenlosigkeit“ im üblichen Sinne) abstürzen mussten, nachdem die totalitäre Autorität, die sie furchtbar in „Form“ gehalten hatte, zusammengebrochen war. Da für diese Menschen der Kodex des zu Tuenden und zu Unterlassenden, kurz: die Moral, Eins gewesen oder geworden war mit dem diktatorisch Verbotenen oder Befohlenen, ist nun, da das Diktat seine 44 2WISCHENWELT Gültigkeit eingebüßt hat, der Begriffvon Moral überhaupt für sie unverstehbar geworden. Solcher Nihilismus, als universelle, nur an letzter Stelle theoretische, Erscheinung, ist, jedenfalls in unserer europäischen Geschichte, etwas Neues. Ihm zu begegnen, ist eine Aufgabe, für deren Schwierigkeit keiner von uns wirklich vorbereitet ist. Aber schen müssen wir sie in ihrer ganzen Schrecklichkeit. Unmöglich, sie einfach mit bloßem Appell an sogenannte „Werte“ zur Ordnung rufen zu wollen. Für den wirklichen Nihilisten muss jeder gleichermaßen nichtig sein; jeder wird den gleichen totalen Hohn hervorrufen. Denn „Werte“ müssen, nach solcher Diktatur wie der Hiders, als „Rufe ohne Rufenden“, als „Befehle ohne Befehlenden‘, als, von keiner Macht sanktionierte, Schmuckworte wirken. Die Anonymität ihrer Sanktion — mit ihr die sogenannte „Wert- und Geltungsphilosophie“ — gehört einer Epoche an, die, obwohl nur Jahrzehnte von uns entfernt, doch heute schon graue Vorzeit zu sein scheint. — 9. These: Der Weg vom Sein zum Sollen muss von Neuem gebahnt werden Kein Erziehungsproblem ist heute verzweifelter, als das der „Krise der Autorität“. Mit dem Ausdruck ist einmal gemeint, dass, während in den letzten 15 Jahren nur der mit Macht und Gewalt Investierte als Autorität anerkannt wurde, heute die, nicht durch Gewalt „gedeckte“ Autorität des Erziehers und Lehrers für den Schüler in Nichts zu gründen scheint. So furchtbar dieses Problem ist, es ist nur Teil eines allgemeineren: Auf welche Autorität man sich nämlich bei der (nicht nur unvermeidlichen, sondern absolut gebotenen) Diskussion der Moral berufen solle. Denn immer wieder wird, mehr oder minder verkleidet, die Frage auftauchen: warum man dies oder jenes solle? Oder warum man überhaupt sollen solle? Dass diese, blödsinnig klingende, Frage, die aber die philosophischste aller Fragen ist, nicht mir nichts, dir nichts mit Appell an „Werte“ beantwortet werden kann, haben wir eben schon betont. Aber wie? Keine Philosophie und keine Religion scheint heute tief genug in den Menschen hineinzugreifen, um die, in der Frage sitzende, Verzweiflung wirklich erreichen oder sie gar durch eine Antwort still machen zu können. Die, wie mir scheint, einzige nicht ganz aussichtslose Methode, bei solchen Diskussionen den Vulgärnihilisten wirklich zu „erreichen“, ist die von Pestalozzi formulierte: Es gilt, an jener vormoralischen Ebene anzusetzen, die die Basis der Moral selbst ist. Da für den Blick der Vulgärnihilisten das Gelände und der Weg zwischen „Sein“ und „Sollen“ vollkommen zugewachsen ist, hat man mit dem Fragenden den Weg selbst noch einmal zurückzulegen; und zwar (auf Sokratische Weise) so, dass der Fragende selbst, che er sich dessen versicht, Moralvokabeln verwendet. — Die Voraussetzungslosigkeit einer solchen Unterhaltung muss radikal sein. Die Unterhaltung hat auszuschen, als stünden Lehrer und Lernender in der, von den Rechtsphilosophen so oft gesetzten, „vor-rechtlichen“ Situation; und zum ersten Male sollte „Ordnung“ hergestellt werden. Was der Fragende nicht aus seiner eigenen (mindestens durch die Tatsache seines Lebenswillens und seiner natürlichen Sympathien gegebenen) Position selbst entwickelt, würde er entweder nur verbal akzeptieren oder nur auf Grund der (zweifelhaften) Autorität des Lehrers glauben: also so, wie er den nationalsozialistischen Unwahrheiten geglaubt hatte. Und gerade das muss vermieden werden. Denn das Wahre soll man