OCR
Miguel Herz-Kestranek Gedenken und Gewissen Gekürzte Fassung der Festrede, gehalten am 29. Jänner 2018 anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktages bei der Gedenkfeier der österreichischen Freunde von Yad Vashem im alten Linzer Rathaus. Als Sohn und Enkel von Exilanten, die der NS-Verfolgung entkommen konnten, während Teile der Familie ermordet wurden, erlebe ich - frei nach dem Diktum der Dichterin Hilde Spiel, Verlust der Heimat, Flucht und Emigration seien vererbbare Krankheiten —, dass sich diese Themen, Mottos vieler Gedenkfeiern, bestimmend auch durch mein Leben ziehen. Mein vor kurzem verstorbener Freund, der 1924 in Wien als Fritz Mandelbaum geboren wurde, 1938 in die USA flüchtete und dort als Frederic Morton zum weltberühmten Autor wurde, schrieb schon 1991 in seinem Essay „Exil, die Epidemie der Moderne“ vom „Exil, das im Begriff ist, unser aller Erbe zu werden.“ Und wirklich sind wir, die wir uns als Bürger eines vereinten und kriegsfreien Europa vor allem bei Gedenkanlässen für ein freies Österreich und gegen das Wiederaufleben von Rassismus, Faschismus und Antisemitismus einsetzen, indem wir uns an eine der dunkelsten europäischen Epochen erinnern, wieder mit millionenfacher Flucht und Emigration konfrontiert, deren Bewältigung zu einem großen Prüfstein für den Bestand der alternativlosen europäischen Union geworden ist. Und wir sind, ob persönlich an den derzeitigen Flucht- und Emigrationsbewegungen mitverantwortlich oder nicht, aufgefordert, an der europäischen Lösung mitzuwirken. Dramatisch kurz ist gerade in Europa die Zeitspanne, die uns von überwundenen Diktaturen trennt. Und dramatisch groß ist die Gefahr ihres Wiedererstehens, in neuem Kleid. Diktatur erwächst meist aus zerstöorenden Widersprüchen im gesellschaftlichen und geistigen Leben einer Nation. Die Wahlsprüche von Diktatoren damals wie heute und jenen, die sich augenscheinlich auf den Weg dahin begeben haben, gipfeln im Versprechen, diese Widersprüche zu lösen, münden jedoch in der Unterdrückung jeden Widerspruchs — und somit in der dramatischen Verschärfung der Widersprüche und den daraus erwachsenden tödlichen Folgen. Dieser Folgen, ihrer Ursachen, ihrer Opfer und ihrer Helden gedenken wir. Auch heute und hier, um die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen, die Zusammenhänge zu erkennen zwischen Ursachen und Wirkung, zwischen damals und heute, um Demokratie, Menschenrechte, Freiheit des Geistes und somit unsere Grundwerte zu verteidigen, und nach den beiden genannten Appellen zu handeln im sogenannten Alltag. Unzählige Gedenkfeiern werden besonders im Vielfachgedenkjahr 2018 abgehalten werden. Es wird also historischer Geschehnisse gedacht und dabei wie schon hunderte Male zuvor und in immer ähnlichen Ritualen das dabei hundertfach gehörte „Nie wieder!“ beschworen. Dazu eine Bemerkung am Rande: Der alljährlich am 9. Mai stattfindende Europatag der Europäischen Union allerdings, welcher an die Schuman-Erklärung und die damit verbundene Geburtsstunde der Europäischen Union erinnert und auf den Frieden und die Einheit der zur Europäischen Union gehörenden 48 2WISCHENWELT Staaten aufmerksam macht, dieser Gedenktag wird wohl auch 2018 kaum wahrgenommen werden. Dabei steht dieser Tag mit seinem Hinweisen auf die in Politik gegossene Antwort auf die Destruktivitäten von Nationalismus wohl am besten für ein europaweit gelebtes „Wehret den Anfängen“ und „Nie wieder“. Ich war in meinem Leben bei unzähligen Gedenkfeiern vornehmlich in Erinnerung an den NS-Terror, habe unzählige Reden gehört und Versuche erlebt, das nach wie vor Unbegreifliche in Worte zu fassen und damit Betroffenheit zu bewirken; eine Betroffenheit, die andauern sollte über die Gedenkstunde hinaus, damit sie mitgenommen werde nach Hause, ins sogenannte normale tägliche Leben. Doch je mehr Gedenkanlässen ich beigewohnt habe, desto mehr sind meine Zweifel gewachsen an der Wirksamkeit über das Nicht-Vergessen hinaus. Zu groß scheint die Distanz vom Anlass zu sein. Deshalb hege ich auch meine Zweifel an der Wirksamkeit der implizierten Aufforderung, die richtigen Schlüsse aus dem Gedenken zu ziehen, möglichst moralische, gerechte Schlüsse, die zum Besseren, wenn nicht gar zum Guten wenden sollen, was nach wie vor kaum besser und schon gar nicht gut ist. Ich kenne auch dieses Schuldgefühl, das Unbehagen, das sich einstellt bei Gedenkfeiern, darüber, nicht mehr nachhaltig getroffen zu werden vom lange Vergangenen, von der zweiten Vertreibung aus dem Paradies, wie ich es einmal genant habe; von der Gleichzeitigkeit von Grausamkeitswahnsinn und dem Verwerfen jedweder menschlicher Regeln neben Beethovenkonzert und Goethegedicht; von der Gleichzeitigkeit etwa liebevoller Vater- und Mutterschaft am Abend und tausendfachen Kindermordens am nächsten Tag durch die gleiche Person; nicht nachhaltig also betroffen zu sein von etwas, das sich nach wie vor jedem Erklärungsmuster entzieht; und auch den Zusammenhang zu heute nur herstellen zu können als theoretische Übung, ohne unmittelbare Auswirkung auf das eigene Handeln. Heute, wo die sogenannte Aufarbeitung eine langjährige Tradition darstellt, zweifle ich an der Wirksamkeit von Gedenkfeiern, wie sie derzeit stattfinden. Ich zweifle an ihrer Erziehungskaft zu Humanismus. Ich zweifle an der Tauglichkeit des Gedenkens, wie es begangen wird an sich. Denn würden das Gedenken, würde das Erinnern und das Nichtvergessen genügen, dürften nicht genau jene Anfänge, denen zu wehren aufgerufen wird, sich so mehren wie heute. Ist Gedenken also Pflichtübung in politischer Korrektheit? Dient Gedenken als Ablassfunktion? Zur Bekräftigung des kollektiven Konsenses, dass wir als Gedenkende für uns die Hand ins Feuer legen können? Ich habe mich aufgefordert gefühlt, nachzudenken darüber, welche Form des Gedenkens mich diese Zweifel überwinden ließe und ich bin zur Überlegung gekommen: Wie wäre es, Gedenken immer in einen Zusammenhang mit dem eigenen Gewissen zu stellen? In der Stunde des Gedenkens und im Bewusstsein der Unmöglichkeit, sich in die Vergangenheit und deren gänzlich andere Ausgangslagen zu versetzen, trotzdem den Bezug zur Gegenwart,