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Besitzes über den Nichtbesitz, zu brechen sei, um die Rechtsidee des Staates endlich zu verwirklichen“. Die Wiener Demokraten hatten im Sommer 1848 das Konzept der „sozialen Demokratie“ entwickelt - und mit Marx diskutiert, dessen „Neue Rheinische Zeitung“ ja den Untertitel „Organ der Demokratie“ führte. Auch in der bürgerlichen Demokratie bestehe „der Despotismus des Kapitals“ weiter, meinte Violand. Er war ein wacher Beobachter der sozialen Probleme hinter den Kulissen des Biedermeier: „Österreich hatte ein Proletariat, welches dem von Frankreich nicht viel nachstand“; es gab „schauderhaftes, massenhaftes Elend.“ Als scharfer Beobachter von Hungerkrisen, Prostitution und Obdachlosigkeit zeichnete er die Folgen des „schaudervollen Elends dieser Fabrikssklaven“, die „von den Behörden als Gesindel, wie eine Herde Vieh behandelt“ werden. Der Sozialprotest der Märztage erschien ihm als „Volksgericht“: „Eine Revolution gelingt nur dem armen Volke vereint mit der begeisterten Jugend.“ Nach dem Scheitern der parlamentarischen Verankerung der Revolution müsse der Kampf im Bündnis von Demokraten und Proletariat fortgesetzt werden: Demnach geht das Bestreben der sogenannten sozialen Demokraten dahin, mittelst einer Diktatur jedes Privilegium abzuschaffen und [...] die die Arbeit beherrschende Macht des Kapitals zu brechen. [...] Dieses Streben mit seiner sittlichen Berechtigung wird jedenfalls der Kampf der Zukunft, und zwar vor allem in Frankreich, sein. Ja, er hat schon begonnen und seine erste Schlacht im Juni des Jahres 1848 zu Paris geführt: Wenn auch besiegt, rüsten sich doch die sozialen Demokraten, von der Idee des Rechtes begeistert, mit ihrem darniedergetretenen ungeheuren Anhang der ausgebeuteten Besitzlosen zu neuem erbittertem Kampf. [...] Die Demokraten und die sozialen Demokraten (sind) allein diejenigen, welche für die Herrschaft des Rechtes, für die Idee des Staates streiten, und sich beide nur dadurch unterscheiden, daß die ersteren wohl die von der Vernunft geforderte Freiheit und Gleichheit, aber nicht die Bedingungen, unter denen sie allein bestehen kann, anstreben, während die letzteren auch diese, und zwar mit Gewalt, einführen wollen, da sie einsehen, daß ohne Gewalt durch bloße Abstimmung der Egoismus der durch ihren Besitz herrschenden und die Majorität bildenden Klasse der Gesellschaft nicht gebrochen wird und die Abhängigkeit der Besitzlosen auch unter der rein demokratischen Republik nicht aufgehoben wird. Violands Klassenanalyse beruft sich auf die Werke von Lorenz Stein, dessen „Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs“ (1842) den Zeitgenossen die Augen für die soziale Dynamik der bürgerlichen Revolution und des aufsteigenden Kapitalismus geöffnet hatte. Die wesentlich erweiterte Neufassung des Steinschen Werkes („Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage“, 1850) half Violand, seine eigenen Erfahrungen zu einem theoretischen Modell der Widersprüche der bürgerlichen Revolution auszubauen. Seine Einsichten, dass der Gesellschaft gegenüber dem Staat die primäre Stellung zukäme und dass die ökonomischen Gesetze der „volkswirtschaftlichen“ bzw. „industriellen“ Gesellschaft ihre Klassenstruktur bestimmten, gaben Violand die Möglichkeit, seine spontane Parteinahme für die unterdrückten und ausgebeuteten Massen in ein klares revolutionäres Konzept einzufügen. Die Analogie zur Pariser Revolution, in der ähnliche sozialökonomische Voraussetzungen mit der Wiener Entwicklung vergleichbare politische Resultate erzeugten, bewies die Richtigkeit dieser Hypothese. Stein hatte gefolgert, dass der „Kampf im Herzen der Gesellschaft“ zur „Diktatur“ der nichtbesitzenden Klasse, des Proletariats, führen müsse, aber die Entschärfung des drohenden Konflikts durch „soziale Reform“ 52 _ ZWISCHENWELT verlangt, deren Träger das monarchische Staatsoberhaupt sein sollte. 1854 berief ihn Minister Leo Graf Ihun-Hohenstein an die reorganisierte Wiener Universität. Steins „Verwaltungslehre“ stand in der in Österreich so starken Tradition des aufgeklärten Absolutismus und seiner von Sonnenfels begründeten „Polizeiwissenschaft“. Wohlbestallt und nobilitiert lebte und lehrte Lorenz von Stein, unermüdlich publizierend, bis zu seinem Tod in der Weidlingauer Villa bei Wien (1890). Die Wiener Universität setzte ihm umgehend ein Denkmal in ihrem Arkadenhof (1891). Am 5. Dezember 1875 war Violand, der am Sezessionskrieg auf republikanischer Seite teilnahm, im fernen Peoria/lllinois „noch im kräftigen Mannesalter an den Folgen von Überarbeiten und Nahrungssorgen“ gestorben. Violand war ein würdiger Repräsentant der forty-eighters. Ein in Wien 1849 erschienener „Ratgeber und Wegweiser für Auswanderer aus Österreich nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika“ schilderte beredt die Vorteile für einen Emigranten: „Ein leicht zu erwerbender Boden, volle Freiheit der Beschäftigungen und Gewerbe, milde Abgaben, allgemeine politische und religiöse Freiheit, zu denken und zu glauben, was er will.“ Und ein damals viel gesungenes Lied endete auf den Refrain: „Come a-long, come-along, come-along,/ For Uncle Sam is rich enough/ To buy us all a farm!“ — Die Realität sah freilich anders aus. 1851 berichtete der österreichische Generalkonsul in New York über die Schwierigkeiten der Auswanderer, in der Neuen Welt Fuß zu fassen: „Violand arbeitet in einer Zigarrenfabrik in Virginien, wo er sich im bitteren Schweiße seines Angesichtes das tägliche Brot verdient.“ Die Achtundvierziger als politische Emigranten bildeten nur einen kleinen Teil, aber das formende Element in der Massenauswanderung aus deutschen Notstandsgebieten, die in den fünfziger Jahren nach Hunderttausenden zählte. Die Neuankömmlinge haben nicht nur so wichtige Vokabeln für Nahrungsmittel, wie sauerkraut und lagerbeer, vermittelt, sie gaben ihren bis dahin apolitischen Landsleuten einen Begriff vom Wert republikanischer Freiheit und haben darüber hinaus das Antlitz Amerikas in der zweiten Jahrhunderthälfte in entscheidenden Zügen geprägt. Gewiss haben die früher eingewanderten Deutschen wie die alteingesessenen Yankees die newcomers vielfach als greenhorns belächelt — zu seltsam stachen sie mit ihren Demokratenbärten, malerischen Schlapphüten und idealistischen Zukunftshoffnungen von der nüchternen amerikanischen Realität ab. Dennoch nötigten die Jatin farmers durch Tüchtigkeit und Arbeitsfreude den Skeptikern bald Respekt ab - schlimmer war die Gegnerschaft „nativistischer“ Feinde, die als know-nothings den damned Dutch entgegentraten. Es waren vor allem die jungen aufstrebenden Staaten des Mittelwestens, in denen die Achtundvierziger-Emigranten bei enger Verbindung untereinander Anschluss an die neuen Lebensformen fanden. Nach Ohio, Indiana, Illinois, Iowa und Missouri ergoss sich ein Strom deutscher Siedler. Sprunghaft wachsende Städte, wie Cincinnati, St. Louis, Chicago, Milwaukee, erhielten damals einen bedeutenden deutschen Bevölkerungsanteil. Deutsches Pressewesen und Kulturleben entfalteten sich. In diesem Milieu finden wir Violand wieder: aus den Südstaaten wanderte er bald nach Illinois, wo er sich in Peoria, zur Zeit seiner Ankunft ein kleines Nest von kaum 2000 Einwohnern, niederließ, um von Tabakhandel und Zigarrenerzeugung mehr schlecht als recht seinen Unterhalt zu fristen. In den fünfziger Jahren nahm er lebhaften