OCR
Martin A. Hainz Politisches und metaphysisches Exil: Nelly Sachs‘ Werk ist eine Paradoxie — geschrieben aus der Gefühlslage, „kalt verraten“! zu sein, und zwar von allem und von allen, exiliert, wobei das Exil Rettung ist, aber eben auch die Trennung, und diese Trennung eine, die bis ins Letzte reicht, bis zur letzten Instanz womöglich, sodaß nur die Steine bleiben: Chor der Steine Wir Steine Wenn einer uns hebt Hebt er Urzeiten empor — Hebt Billionen Erinnerungen in seiner Hand’ So die Dichterin: Nur dies — „Gedenksteine“” — bliebe, vielleicht ohne jene, die sie auf Gräber legten, auch, weil es diese Gräber für viele nicht gibt, ihre „Grabschriften in die Luft geschrieben“‘ sein müßten. Die Materialität des Gedächtnisses bliebe, eine Lesbarkeit ohne die Versicherung, daß jemand das Lesbare auch entziffern wollte. Und dennoch hat Nelly Sachs dieses Werk geschrieben, und dies zudem in teils religiösem Ton, dem Formenkanon verwandt, den die jüdische Tradition böte, der sie sich aber dennoch nicht einreiht. Gott gebe es, so scheint manches in diesem Werk zu sagen, aber in der Sprache, als Gott, als verhandelbaren Begriff; und, interessanter: als das, worin die Sprache wahr sein könne, ungeachtet dessen, wer diese höre, erhöre, ihre Klage und ihren Anspruch billige. Um dieses Dennoch der Sprache, die so exiliert ist, soll es gehen, darum, wie sie machtlos machtunbedürftig gegen alles steht, was der Dichterin und noch so vielen die Sprache vorenthalten und verbieten wollte. Mit dieser widerständigen Sprache lebt Sachs, in ihr, Sprache als ihr Leben und dessen Biographie, entgegen dem, dem „gegenüber man den eigenen Seelenfrieden“ nicht und dann nie wieder „bewahrt“, wie Adorno formuliert, nämlich nach dem Herausfallen aus einer anderen Sprache, worin Gesetz und Sprache noch einander verbunden schienen, was nach der erlebten Entrechtung Nelly Sachs nie wieder sicher scheinen konnte, nach dem Verlust, der hier zudem eine instabile Persönlichkeit traf. Nelly Sachs, als Leonie Sachs am 10. Dezember 1891 in BerlinSchöneberg (genauer: im damals noch selbstständigen Schöneberg) geboren, wächst behütet auf, in assimilierten großbürgerlichen Verhältnissen, wobei ihrer nicht nur psychisch fragilen Konstitution hier Rechnung getragen wird, sie wird unter anderem drei Jahre von Privatlehrern unterrichtet, wie sie, als schon damals ihre Existenz von kleineren Verletzungen gefährdet scheint, psychologisch behandelt wird; Schreiben ist bei ihr, die spätestens mit 17 Gedichte schreibt und als begeisterte Leserin von Selma Lagerlöf und deren Debütroman Gösta Berling mit dieser eine über drei Jahrzehnte währende Korrespondenz beginnt, früh — auch — eine Therapie. Allerdings pflegt sie therapeutisch nicht nur sich, sondern sie sieht um sich die „Krankheit des Normalen“, ein Kranken bis in die Sprache, wogegen ihre Texte, die nur anfangs 56 ZWISCHENWELT neuromantisch-apolitisch sind, aus jener Haltung verfaßt, der nicht bewußt ist, daß aus ihr die Bourgeoisie jedenfalls auch spricht, bald Einwände werden. Die frühen, melancholischen wie neuromantisch-ästhetizistischen Gedichte halten dem Urteil der späteren Nelly Sachs auch nicht stand, bei der Herausgabe ihrer gesammelten Werke — Fahrt ins Staublose — verzichtet sie auf sie, wobei dies hier auch ausdrücklich festgehalten wird.’ Es ist eine Wende ähnlich der bei Rose Ausländer, die bekanntlich ihr Frühwerk gleichfalls verwirft und später behauptet, ihres Wissens gäbe es von Regenbogen kein Exemplar mehr — wiewohl sie eines besitzt.® Spätestens 1930 ist diese Wende bei Sachs gegeben, neben privaten Traumata wie dem Tod ihres Vaters, nach jahrelanger Krebserkrankung stirbt er, woraufhin Nelly Sachs mit ihrer Mutter in ein Mietshaus in der Lessingstraße im Berliner Hansaviertel umzieht, das in mütterlichem Besitz ist, kann sie nicht mehr übersehen, daß sich das politische Klima in Deutschland und Berlin bereits gründlich verändert. Nelly Sachs ahnt, daß diese Veränderung nicht abgeschlossen ist, „Sterben ohne gemordet zu werden“, dies ist ihr aus den 1930ern bekannter Wunsch, ein übrigens auf den ersten Blick seltsam abgeklärter, wenn man ihn vom Ende her liest, also nicht als Wunsch, zu leben und nicht ermordet zu werden, sondern wie eine antizipierte Retrospektive, eigenwillig distant im Andrängen des Terrors.' Zugleich, aber ich will hier der Interpretation nicht zu weit vorgreifen, die noch zu leisten ist, versteht Nelly Sachs dies vielleicht als Politikum; „seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod“'!, so Adorno, denn, so Lyotard: „Auschwitz‘ ist das Verbot des schönen Todes. “'* — Das Dennoch Nelly Sachs‘ ist also hier nicht einfach Lebenswille, sondern dies: lebend, in der Existenz, diese Politik vereitelt zu haben; es ist ein Akt wider die „Räuber von echten Todesstunden“'?. Man ahnt hier längst, daß das Dennoch, die Zwischenposition, am Werk Nelly Sachs‘ eine Qualität ist. Zu den Erlebnissen, die diese Situationen konkretisieren, ist sicherlich auch wesentlich das Geschick dessen zu rechnen, der als Bräutigam in ihr Werk eingeht.'* Preisgegeben hat Nelly Sachs nicht, auf wen sie sich da bezieht, dieser Mann, mit dem Nelly Sachs vermutlich über Jahrzehnte eine Beziehung hat, wird offenbar aufgrund jener Verbindung sowie seiner Affinität zum Widerstand verhaftet, gefoltert und ermordet. Sie habe, so Nelly Sachs, „einen geliebten Menschen [...] getroffen zusammenbrechen geschn.“'° Einzelheiten werden von Sachs jedoch nicht preisgegeben, sie schreibt dies: Auch dir, du mein Geliebter, Haben zwei Hände, zum Darreichen geboren, Die Schuhe abgerissen, Bevor sie dich téteten.'® Das Morden ist nicht, wozu Hände geboren — bestimmt — sind, dies der religiöse Subtext, worin wie noch an vielen Gedichten auffällt, daß die Krise, die bis ins Religiöse reicht, nahezu religiös beantwortet wird, jedenfalls mit und in Zwischentönen. In dieser Zeit beginnt sich Nelly Sachs mit dem Judentum auseinanderzusetzen, nicht einem nationalsozialistisch verordneten, in dieses Kollektiv und vielleicht darin zu einer Solidarität genötigt, sondern mit der Heiligen Schrift und Buber wie auch Rosenzweig.