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mir glauben, mir aber die Beschreibung meiner Eindrücke erlassen, da es mir im Augenblick um anderes geht. (Schwarz, Wanderjahre 179) Zwar unterlässt Schwarz in diesem Textabschnitt nicht ganz die Beschreibung der Eindrücke, doch werden sie schr stark gekürzt, um die autobiographische Chronologie auf die entscheidende Wende hin anzutreiben, nämlich die erwähnte Aufnahme an einer amerikanischen Universität und die Stelle als Lehrer, die für die Umsetzung seiner Willensfreiheit gegen die Mächte der Geschichte und für den weiteren Lebenslauf des Autors so entscheidend werden. Dieser Straffung fällt z.B. auch ein Besuch an der University of Michigan zum Opfer, bei dem der Autor zum ersten Mal das Potenzial des amerikanischen Bildungssystems zu spüren kommt: Mein Aufenthalt in Ann Arbor flog an mir vorbei wie ein Film, schnell, unwirklich und voller Abenteuer. Neid und Bewunderung waren meine vorherrschenden Empfindungen angesichts des Reichtums, der Vielfalt und der Grösse einer amerikanischen Universität. (Schwarz „Abenteurer“ 216) An sich würde die Beschreibung des Besuchs zur erwähnten Wende beitragen, da er das Bildungsbedürfnis des Autor nur noch weiter anstachelte, doch kann die Streichung vorgenommen werden, weil es noch einen zweiten Campusbesuch gibt, nämlich an der Harvard University, der für die Geschichte des Autors relevanter wird. Passend kann er diesen Besuch in der Schlussversion mit einem ironischen Kommentar quittieren: Wer mir in dieser Minute vorausgesagt hätte, daß ich in wenigen Jahren, versehen mit einem Doktorat, als Dozent in akademischen Amt und Würden an dieser selben Universität eine Lehrtätigkeit ausüben würde, den hätte ich einer psychiatrischen Behandlung für dringend bedürftig gehalten. (Schwarz, Wanderjahre 180) Andere Streichungen sind nicht immer ganz zu durchschauen, obwohl sie dem Anspruch auf Willensfreiheit durchaus entsprochen hätten. Um auch hier ein Beispiel anzuführen, lässt sich der Autor beim Aufenthalt in Santiago de Chile auf eine Beziehung zu einer Mitemigrantin ein, doch erkennt er bald, dass sie nicht von Dauer sein kann, abgeschen davon, dass die Familie Schwarz aus Visagründen nicht in Chile bleiben darf. Der Vater der Frau will aber Schwarz für die Eheschließung gewinnen, ist bereit, ihm ein Visum zu arrangieren, und verspricht ihm dabei ein Geschäft in einer Hauptstraße der Stadt. Dieser Festlegung entzicht sich aber der Autor nach Ecuador. In der Frühversion lesen wir: Aber obwohl ich wusste, daß mich in Ecuador wahrscheinlich auch nichts Beglückendes erwarten würde, empfand ich dumpf, daß ich mein Leben noch nicht aufgeben durfte, daß ich mich für irgendeine Chance, und wenn sie noch lang auf sich warten ließe, aufbewahren musste. Und so fuhr ich nach Ecuador. (Schwarz, „Abenteurer“ 139). Genau Schwarz‘ Beharren auf Selbstverwirklichung hätte als Beispiel der Selbstbestimmung trotz der Versuchung einer gesicherten Existenz dienen können. Man kann hier vielleicht vermuten, dass diese Geschichte nicht übernommen wurde, weil sie eine seiner Liebesbeziehungen einschloss, die Schwarz ohnchin in der Schlussversion strich, um das allzu Persönliche herunterzuspielen. Dem Ordnungsprinzip des Bildungsromans entsprechend hat die Schlussversion dann auch eine Reihe von inhaltlichen Erweiterungen erfahren, vor allem, was das Wechselspiel zwischen inneren und äußeren Einflüssen betrifft, also die Einbettung des eigenen Schicksals in einen größeren geschichtlich-soziologischen Kontext. So wird der ungarisch-österreichische Vielvölkerstaat geschildert, der auch die Herkunft der Eltern bedingte. Des weiteren gibt es Ausführungen zur Situation Wiens nach dem Ersten Weltkrieg, 64 — ZWISCHENWELT gekennzeichnet vom aufkommenden Antisemitismus, den Schwarz so direkt zu spiiren bekam. Als Kind fuhr er oft nach Pressburg, um die orthodox-jiidische Verwandtschaft der Mutter zu besuchen, was er wiederum als Gelegenheit ausnützt, um ausführlich das alte Judentum, seine Bräuche und das Gemeinschaftsgefühl zu beschreiben. Auch der „Anschluss“, dessen Bejubelung durch viele Österreicher und die vielfachen Auswirkungen werden geschildert, vor allem das frenetische Bemühen um Auswanderung, das auch das Leben von Schwarz kennzeichnete. Einmal in Südamerika angekommen, gibt es weitgehendere Ausführungen zur Geschichte Boliviens als in der Frühversion, die ebenfalls eine Diskussion von solchen Begriffen wie Kolonialismus und Postkolonialismus einschließen, insgesamt neue Erfahrungen für den Autor. Auch der allgemeine Kulturschock als Europäer in der fremden Situation und der Prozess vom Emigranten zum Immigranten werden detaillierter beschrieben. Im Schlusskapitel zu seinem weiteren Lebensverlauf in Nordamerika setzt sich Schwarz als Literaturwissenschaftler in Beziehung zum größeren Kontext der Germanistik in den USA und Deutschland. Was das Dasein in der neuen Heimat betrifft, singt er ein Loblied auf die nordamerikanischen Nationalparks und manche der demokratischen Eigenschaften des Landes, bevor er aber enttäuscht auch ein sehr kritisches Bild diesbezüglich entwirft, wie wir noch schen werden. In einer „Nachschrift 1991“ für die Büchergilde-Ausgabe erfahren wir von der Sicht des Autors auf das gegenwärtige Österreich zur Zeit der Niederschrift. Die hier angeführten inhaltlichen Straffungen oder Erweiterungen, die sich nach literarischen Kriterien richten, stellen den zentralen Realitätsgehalt von Schwarz‘ Autobiographie an sich nicht in Frage. Problematisch im Sinne des erwähnten mimetischen Anspruchs von Autobiographie wird es mit der Umgestaltung von Schlüsselepisoden, die in beiden Versionen zwar existieren, doch in der Schlussversion nicht unwesentlich anders beschrieben werden. Nach der Flucht der Schwarz-Familie kam es im Zuge des Münchener Abkommens im Oktober 1938 zur Autonomie der Slowakei unter der Führung des klerikalen Faschisten Jozef’Tiso (1887 — 1947). Als Folge sollten alle Nicht-Slowaken verhaftet und deportiert werden. In „Abenteurer wider Willen“ schildert Schwarz die Situation so: Unsere Verwandten zogen Erkundigungen ein und als sie in Erfahrung brachten, dass die Verhafteten nicht nach Deutschland, sondern in die an Ungarn abzutretenden Gebiete verschickt wurden, kamen wir überein, das wir am besten täten, uns freiwillig in unser Schicksal zu ergeben, da man uns früher oder später ergreifen würde. (Schwarz, „Abenteurer“ 16) Wenig später heißt es dann noch: „Dass wir uns freiwillig gemeldet hatten, brachte uns einige Vorteile. Wir mussten unser Geld nicht abgeben, konnten alle unsere Koffer mitnehmen und wurden gleich einem der abgehenden Transporte eingegliedert, ohne erst stundenlang warten zu müssen“ (Schwarz, „Abenteurer“ 17). Im Gegensatz dazu wird die Schwarz-Familie in der Schlussversion direkt verhaftet. Aus Angst vor Razzien bewegen sie sich nur nachts vorsichtig auf der Straße: „Schon meinten wir, für diesmal sicher zu sein, denn gegen ein Uhr oder halb zwei hörte der Spuk gewöhnlich auf, da wurde vor unserer Nase ein Tor aufgerissen und wir liefen einer Streife gerade in die Hände.“ (Schwarz, Wanderjahre 65) Darüber hinaus kann die Familie in der Frühversion zunächst bei Verwandten der Mutter im ungarischen Dunaszerdahely unterkommen, bevor sie der größeren Gruppe Vertriebener eingefügt und ins Niemandsland zwischen