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Ungarn und der Slowakei deportiert werden. In der Schlussversion scheinen Schwarz und seine Eltern von Anfang an Teil der Gruppe zu sein, die unter primitiven Umständen auf dem Marktplatz des Städtchens kampieren muss, bevor es weiter ins Niemandsland geht. Diese Verschiebung der Realität kann als Anpassung des Stoffes an die Willenfreiheitsfrage verstanden werden. Durch die Pressburger Verhaftung stilisiert sich Schwarz dramatischer zu einem Deportationsopfer, das der starken Einwirkung der geschichtlichen Ereignisse nicht entkommen konnte. Demnach unterliegt auch die Umerzählung dem Ordnungsprinzip der unmittelbareren Einbettung in die größere Geschichte der Zeit. Außerdem führt sie konsequenter, was die Selbstbestimmung betrifft, zu einer wichtigen, allgemeingültigen Einsicht nach der Befreiung aus dem Niemandsland, „daß jede Zugehörigkeit, jedes Recht, jede Gemeinschaft auf Illusionen beruht, bis auf Widerruf von den jeweils Mächtigen gewährt, nach Willkür und Gutdünken wieder entzogen“ (Schwarz, Wanderjahre 73). Kritisch muss natürlich angemerkt werden, dass schr wohl ein Unterschied zwischen einem freiwilligen Gang in die Deportation und Verhaftung liegt, wenn auch das Resultat gleich tragisch war. Ein weiteres auffallendes Beispiel für diese Art Umgestaltung des Textes zwischen den Früh- und Schlussversionen hängt mit dem Foto zusammen, das sowohl auf dem Buchdeckel und im Text der Büchergilde- als auch der Taschenbuchausgaben zu schen ist. Die fotographische Erweiterung des Textes misst den damit verbundenen Erlebnissen zweifellos eine besondere Bedeutung zu. Das Foto zeigt den Autor mit einem Angebot an Hosen über die linke Schulter drapiert und einem Koffer in der rechten Hand, der vermutlich weitere verkäufliche Ware enthält. Es geht dabei um Schwarz‘ Versuch, sich als Handelsreisender auf dem Hochplateau Boliviens zu behaupten. In der Frühversion bricht er zusammen mit Pinchas Türkischgelb von Sucre aus dorthin auf, wobei dieser als älterer jüdischer Freund gewissermaßen die Führungsrolle übernimmt. Mit viel Mühe werden die Produkte bis nach Pulacayo transportiert, das sich als schr unwirtlich und ihren Verkaufsversuchen gegenüber größtenteils abweisend zeigt. Darüber hinaus ist es so kalt, dass der einzige warme Ort das Kino wird, wo sich der Autor und sein Freund wiederholt den Cinderella-Film von Walt Disney anschen, angeblich insgesamt vierzehnmal. Alle Versuche, die Produkte zu verkaufen, schlagen letzten Endes fehl, so dass sie alles mit Verlust verschleudern. Schließlich werden sie krank und müssen nach Sucre zurückkehren. Der wesentlichste Unterschied der beiden Versionen liegt darin, dass Schwarz die Episode in der Schlussversion allein erlebt. Erzählerisch legt der Autor seine eigene Person mit der des Freundes zusammen, was sich am eindeutigsten mit dem Verlust eines Zahnes zeigt. In der Schlussversion lesen wir: Ich war verzweifelt. Ich fror. Eines Morgens beim Putzen verlor ich einen Zahn. Ich hustete. Ich bekam Blasenkatarrh. Der einzige warme Ort war das Kino, eine miserable Bretterbude, die ich allabendlich aufsuchte. Ich blieb für beide Vorstellungen. Man spielte Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge. Ich habe den Film zwei dutzend Mal gesehen. Schon oft ist es mir gelungen, die Menschen mit meinem minutiösen Detailkenntnissen seines Inhalts zu verblüffen. (Schwarz, Wanderjahre 141) Dass er den Film nun zweidutzend- statt vierzehnmal wie in der Frühversion sicht, mag noch einer Verstärkung der ironischen Pointe dienen, doch was den Zahn betrifft lesen wir in der Frühversion: Durch die schlechte Ernährung und das stundenlange Stehen im kalten Raum waren wir beide krank geworden. Wir husteten erbärmlich und fieberten. Eines Morgens war Pinchas ein Zahn ausgefallen und meine Füsse blaugefroren. (Schwarz, „Abenteurer“ 109-110) In der Schlussversion bleibt buchstäblich vielleicht nur der Schatten von Pinchas Türkischgelb übrig. Denn in dem erwähnten Buchdeckelfoto ist der schattige Umriss eines Fotographen auf dem Mantel von Schwarz zu erkennen. Der Schatten mag der Freund gewesen sein. Was die Umgestaltung dieser Schlüsselepisode betrifft, lesen wir in der Schlussversion nach wenigen Einzelheiten: Ich sehe, ich muß die Art meines Berichts ändern. Statt eine Liste von peinigenden Details aufzustellen, die selbst nach nahezu vierzig Jahren nicht viel von ihrem Schrecken eingebüjst haben, raffe ich das Geschehene zusammen, zumal ich es ohnehin dem Leser überlassen mus, sich das Wichtigste, nämlich den verkrampften Zustand meines Gemiits selbst auszumalen- (Schwarz, Wanderjahre 140 f.) Dem Straffungsprozess ist hier einerseits Pinchas Türkischgelb zum Opfer gefallen. Dabei ist aber auch daran zu erinnern, dass die Episode in der Schlussversion im Zuge der pikaresken Erlebnisse des Helden erzählt wird, die eine Pikaro-Figur in ihrer klassischen Form entweder allein zu bestehen hat (vgl. etwa Grimmelshausens Simplicissimus) oder der héchstens ein Sancho Panza wie in Cervantes’ Don Quijote untergeordnet ist. Somit unterliegt die Episode andrerseits der literarischen Form, die sich der Autor für diesen Teil seiner Autobiographie gewählt hat. Im Sinne der erwähnten Distanzierung durch die Form muss dann das Persönliche, weder sich noch den Freund betreffend, auch nicht mehr so vordergründig sein, was das Zitat ohnchin andeutet. Schließlich soll die Episode zum Ausdruck bringen, dass Schwarz völlig ungeeignet war, den Beruf als Händler auszuüben. So heißt es in der Frühversion: „Es sollte wohl kein Kaufmann aus mir werden!“ (Schwarz, „Abenteurer“ 110). Ähnlich lesen wir in der Schlussversion: „So endete mein erster und einziger Versuch, mich als selbständiger Kaufmann in der Welt umzutun.“ (Schwarz, Wanderjahre 142) Im Sinne der Durchsetzung seines Bildungswillens sollte Schwarz der Weg in die Geisteswissenschaften nach viel weiterem Bemühen vorbehalten bleiben. Die Schlussversion führt straffer und literarischer zu diesem Endergebnis der Episode. Wie eingangs erwähnt, kehren diese Umgestaltungen des Textes eine grundlegende Problematik des autobiographischen Schreibens hervor, dessen Anspruch gerade in einem mimetischen Vorgang liegt, der durch solche Verschiebungen scheinbar hinterfragt wird, ganz abgesehen von der Kritik der literarischen Dekonstruktion, die Realität überhaupt mit Wörtern festhalten zu können. Weiterhelfen kann uns hier Philippe Lejeune, einer der führenden Theoretiker auf dem Gebiet der Autobiographie. In seinen Überlegungen sprach er vom „pacte autobiographique“ zwischen Autoren und Lesern, in dem sich Autobiographen nicht zu einer historischen Genauigkeit verpflichten würden, sondern eher zu dem Versuch, sich aufrichtig mit dem eigenen Leben in der Suche nach Selbsterkenntnis auseinanderzusetzen (vgl. Eakin ix). Aufrichtigkeit als Schreibintention blieb Lejeune aber suspekt, und er kam darauf zurück. In seinem Essay „Le Pacte autobiographique (bis)“ verbeugte er sich gewissermaßen vor Roland Barthes und der literarischen Dekonstruktion, betonte aber zugleich die Existenz autobiographischen Schreibens und den realen Wunsch danach: Telling the truth about the self, constituting the self as complete subject—it is a fantasy. In spite of the fact that autobiography is impossible, Juni 2018 65