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NEUE TEXTE Konstantin Kaiser Ein paar Worte über Charles Ofaire erschienen 2017 in der Edition Splitter, Wien Ausgereckt sind diese Verse wie Tentakel, die sich langsam, doch unaufhaltsam in eine Tiefe tasten. Ist es ein Schacht, ist es ein Abgrund? Die Vers-Tentakel befördern einen selbst stumm bleibenden Passagier. Ist es die Angst, die da „auf Grund geht“? Ist das Menschsein der Abgrund, den es zu durchmessen gilt? Die diensteifrigen Tentakel nützen die Gelegenheit, ihre Wortwitze zu machen. Einen „endzeitlichen Immerianer“ nennen sie ihren Passagier gleich eingangs, der sich „heutet“ in seiner „Eishaut“, liegend auf „urgewetzten Pfaden“. Sie bevorzugen ein schwingendes Versmaß, am liebsten eine leichtes Vibrato, das sie über die Zeilenbrüche immerzu weiter hinwegträgt. Eine geheime, unaufdringliche Musikalität ist Charles Ofaires Versen eigen. Diese Gedichte zeugen von einer Zeit, in der Zeit immer nur als Frist gesetzt ist, als Frist vor der sich anbahnenden Tyrannei und Barbarei, die allenthalben schon ihre Feldzeichen und Feldküchen aufgestellt haben. Die gegebene Frist konfrontiert die Individuen mit ihrer Ohnmacht. Es ist ein zutiefst ironischer Weltzustand, in dem sich das Ich mit seinem Subjektanspruch „an die Mauer gesegelt“ vorfindet. Der zeitliche Horizont der Gedichte reicht weit in die Geschichte zurück; keine Erinnerungsübung ist das, sondern eine erweiterte Gegenwart, die manchmal den Anschein weckt, der Autor habe sein Erleben noch im frühen 19. Jahrhundert begonnen, jenem Jahrhundert, dessen Fragen uns in Wahrheit immer noch beschäftigen, auch wenn wir nicht einmal mehr imstande sind, sie zu stellen. Der Autor liefert seine Sprache nicht dem Jargon des Heute aus. Ob man „mit Mausklick“ dies oder jenes haben kann, ist Charles Ofaire Das Kind lächelt heute nicht mehr Kain Wort Was soll aus Wörtern werden, wenn schon das Schweigen nicht ausreicht. Wenn die Götter beginnen zu denken, zerfällt alles, zuerst die Tempel, die zu ihren Ehren errichtet worden sind. Blutige Gebetsstriemen überdehnen deinen Körper, du lebst im Umgebauten, im Ungedachten, vertrieben, ausgetrieben ins Nichts, eingeloggt ins Nichts, wohin denn sonst, du entzeitlichter Immerianer heutest in deiner Eishaut. 68 _ZWISCHENWELT für seine ästhetische Haltung nicht relevant. Bestimmend für seine ästhetische Haltung ist eher der Unterschied zwischen dem geblendeten Pferd, welches in Emile Zolas „Germinal“ in die Kohlenschächte hinab gesenkt wird, und dem toten Flüchtlingskind, das, am Sandstrand angeschwemmt, zwischen den Liegestühlen der Urlaubsgäste liegt. Völlig fremd ist dem Autor, das Entsetzen darüber zu bewältigen; da ist keine Wolke erinnerungssatter Melancholie, die dieses Entsetzen alltagstauglich abmildert. Und: „Gott starb im KZ.“ Von einer inneren Einheit der Schöpfung ist nicht mehr auszugehen. Das Entsetzen lässt sich nicht bannen: „Ein Kriegsbild lässt alle Gedichte zerbersten ...“ Doch setzt Charles Ofaire seine Sprache den Sprachen aus — sie bewegt sich zwischen Französisch, Schweizerdeutsch, Provenzalisch. Die Sprachen haben aufgerissene Ränder, an denen sie Worte und Sentenzen tauschen. Manches lässt sich eben nur auf Französisch sagen, manche Gedichte geben sich als Kontrafakturen auf ein Gedicht einer anderen Sprache (so etwa „Das Buch“) aus und spielen auf längst Entferntes wie die kleine Aster in Gottfried Benns Morgue-Gedichten an. (Da war Benn noch nicht jener vergrämte Facharzt ohne Kassenvertrag, der 1933 einen „Aufbruch“ bejubelte.) Der dominante Strang ist das Deutsche, aber verflochten mit den anderen Sprachen des Autors. Die anderssprachigen Einschübe wirken als kleine, sprühende Lichtes, verbreiten die Heiterkeit, nicht eingeschlossen zu sein. Und ähnlich durchdringt auch das Englischhorn des Hector Berlioz die Mauern „zum Hören eines Lilienklangs“. Du verbringst gefällte Zeit unter gefällten Bäumen, die erlöschte Luft erstickt dich in ihren Stacheln, aufabverunterschoben bleibst du liegen, auf urgewetzten Pfaden, gespaltenen Gedanken zum Frass hingerichtet. Tranenhecken, an deren Dornen du dich verletzt, weisen dir den Weg in die Abgründe des Wortes, das nicht für dich aufgehoben wurde. Auf dich wartet kein entewigtes Wort mehr. Dein Wegsein zeigt dir, dass die Welt nicht ist.