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Vladimir Vertlib „Die Ukraine kennt sie alle“ Zweiter von vier „Versuchen“ des Autors, im Rahmen der Vorlesungsreihe „Ost-West-Passagen“ am Institut für Slawistik der Universität Salzburg die in den sogenannten Visegrad-Staaten und in Russland verbreiteten Einstellungen zu erklären. Der Vortrag, gehalten am 26. Jänner 2017, trug den Titel „Osteuropa — ein persönlicher Rundumschlag“. Der dritte „Versuch“ ist bereits in ZW Nr. 1-2/2017, S. 52-53, unter dem Titel „Rechte und Mächte“ erschienen. Im Jahre 2010 hatte der ukrainische Fernsehsender /nter, einer der größten Sender des Landes, eine originelle Idee. Er beschloss 14 Videoclips zu drehen, die zum ukrainischen Unabhängigkeitstag am 24. August gesendet werden sollten, Videoclips in denen die ukrainische Nationalhymne in insgesamt 14 Sprachen, nämlich neben Ukrainisch selbst in den Sprachen von 13 Minderheiten des Landes, gesungen werden sollte. Die Sängerinnen und Sänger (etwas zehn waren es in jedem Clip) entstammten selbst den jeweiligen Volksgruppen und präsentierten sich stets in ihren Nationalkostümen. Die Übersetzungen des Textes der Hymme wurden von den jeweiligen „ethnischen Ensembles“ (so wurden sie in den ukrainischen Medien genannt) selbst vorgenommen. Für die Übersetzung ins Georgische konnte sogar der georgische Dichter Ssosso Tschotschija gewonnen werden. Doch die beiden Regisseure - Anna und Mark Gresj — hatten sich noch etwas ganz Besonderes einfallen lassen. In jedem Clip wird nicht nur gesungen, sondern auch eine dem feierlichen Anlass „angemessene“ kleine Geschichte erzählt. Der jüdische Clip beginnt zum Beispiel mit einer Unterrichtsstunde in einer Synagoge. „Sag mir doch, Jossi“, fragt der Lehrer einen seiner Schüler. „Was geschah am 13. Av des Jahres 5751 nach der Erschaffung der Welt?“ „Unser Land wurde unabhängig!“, antwortet der Knabe euphorisch. „Alles Gute zum Geburtstag, Ukraine!“, schreit der Lehrer begeistert, woraufhin alle die Nationalhymne singen - auf Jiddisch. Ein Schriftzug auf Ukrainisch wird eingeblendet: Ukraine — Heimat für 103.000 ukrainische Juden. Alle Clips folgen diesem Muster: Ein armenischer Schuhmacher beschwert sich über einen Mangel an Aufträgen. „Warte bis nächste Woche“, sagt ihm seine Frau. „Dann wirst du wieder viele Aufträge haben. Dann ist Unabhängigkeitstag, am Feiertag wollen die Menschen wieder gutes Schuhwerk haben.“ Begeistert rufen alle: „Alles Gute zum Geburtstag, Ukraine!“ und singen die Hymne auf Armenisch. „Ich wollte Motive finden, die für die jeweiligen Minderheiten typisch sind, also etwas, womit man bei uns die jeweiligen Völksgruppen assoziiert“, erklärte Regisseur Mark Gresj in einem Interview. „Die Ungarn beispielsweise assoziiert man gemeinhin mit Gulasch, Armenier mit Schuhmachern, ein großer Teil der armenischen Diaspora in Kiew übt immer noch dieses Gewerbe aus. Bevor ich die Szenen schrieb, setzte ich mich mit Vertreten der jeweiligen Minderheiten in Verbindung. Ich wollte niemanden beleidigen oder den Nationalstolz von irgendwem verletzten.“ In der Auswahl werden Russen und Belorussen, Ungarn und Rumänen, Gagausen und Roma (die in der Ukraine auch heute noch „Zigeuner“ genannt werden), Ungarn und Rumänen vorgestellt. Die Krimtataren kommen übrigens nicht vor. (Eine 72 ZWISCHENWELT besondere Afhınität zu dieser Minderheit entwickelte sich in der Ukraine erst nach der Besetzung der Krim durch Russland.) Sie werden allerdings in einer der Varianten dieses Video (es gibt einige Kurz- und Langfassungen davon, die man sich auf You Tube anschauen kann) am Ende, also nach dem letzten Clip, in einer Aufzählung aller in der Ukraine lebenden „Nationalitäten und Völkerschaften“ erwähnt - eine lange Liste, in der unter anderem die etwa 10.000 Tschuwaschen, 6575 Araber, 4712 Udmurten, 3143 Assyrer, 584 Niwchen, 281 Wepsen und 153 Eskimos erwähnt werden. Auch 112 „ethnische Österreicher“ werden hier als Bürgerinnen und Bürger der Ukraine angeführt. Die Ukraine kennt sie alle, liest man abschließend zum feierlicher Klang der ukrainischen Nationalhymne (diesmal wieder auf Ukrainisch). Sie liebt sie, heißt es. Schätzt sie. Jeden einzelnen. Das Video ist zweifellos gut gemeint. Die Ästhetik ist sowjetisch, die Bedienung von Klischees bedenklich, die „nationale Zuordnung“ nach ethnischen Kriterien vom westeuropäischen Standpunkt und Verständnis aus betrachtet mehr als angreifbar. Andererseits frage ich mich, ob wohl der ORF den Mut hätte, zum 100jährigen Jubiläum der Ausrufung der Republik, welches bei uns nächstes Jahr ohne Zweifel gefeiert werden wird, ein Video zu produzieren, in dem Land der Berge, Land am Strome nicht nur auf Deutsch und nicht nur auf Slowenisch, Kroatisch, Ungarisch und Romanes, sondern auch auf Türkisch, Serbisch, Bosnisch, Kurdisch, Arabisch, Farsi und noch in einigen anderen Minderheitensprachen gesungen wird. Die Reaktionen darauf (insbesondere vom politischen Lager „weit rechts von der Mitte“) kann sich jeder ausmalen. Das Video kann man sich heute— wie schon gesagt — in mehreren Varianten, in einer Lang- und Kurzversion sowie in Form einzelner „Nationalitätenclips“ auf YouTube anschauen. Bei einer dieser Varianten, nämlich jener Kurzfassung, welche die meisten Clicks und Likes bekommen hatte, wurde die Kommentierfunktion inzwischen abgeschaltet — wegen unzähliger menschenverachtender und rassistischer Kommentare, wie es heißt. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, einige von ihnen noch lesen zu können, bevor sie gelöscht wurden. Manche dieser abscheulichen „Beiträge“ waren einem wahrlich subversiven Einfall der Regisseure geschuldet, den man, wenn man möchte, als kosmopolitisches Ausrufezeichen deuten kann: In jenem Clip, wo die Nationalhymne in der Originalsprache, also auf Ukrainisch, gesungen wird, kommen drei dunkelhäutige Sänger vor: zwei junge Frauen und ein junger Mann. Dieser Umstand löste sowohl bei russischen als auch bei einigen ukrainischen Kommentatoren Hohn, Spott, Unverständnis, Entsetzen und Scham aus. Wie kann es denn sein, hieß es sinngemäß in vielen Kommentaren, dass ausgerechnet drei Neger in ukrainischer Nationaltracht mitten in einem Sonnenblumenfeld stehen und ‚Schtsche nje wmerla Ukrainy i slawa i wolja‘ (Noch sind Ukraines Ruhm und Freiheit nicht gestorben) singen. Früher hätte es so etwas nicht gegeben! Ihr Ukrainer seid ja das Letzte, höhnten die russischen Kommentatoren. Ihr seid als Volk derart armselig und degeneriert, dass ihr für einen solchen Videoclip nicht einmal echte Ukrainer finden konntet. Ihr seid erbärmlich, nicht einmal ein richtiges Volk. Geht eure Anbiederung an den Westen und den schwarzen Affen Obama schon