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Im schlimmsten Fall führt dies zu Verfolgung und Vernichtung, im besten Fall zu mulitikulturellem Kitsch wie die erwähnten ukrainischen Video-Clips. Das sowjetische Nationalitätenkonzept wird hier konstruiert, gleichzeitig aber gebrochen und neu gedeutet, ohne es allerdings ganz aufzugeben. Man muss den Regisseuren zugute halten, dass sie transkulturelle Komponenten, die auf Mehrfachidentitäten verweisen, eingeführt haben. Wer die Ereignisse in der Ukraine der letzten Jahren verfolgt hat, wird unschwer feststellen, dass sich in diesem Land ein äuerst pathetischer, oftmals peinlicher und vulgärer Nationalismus breit gemacht hat. Das Land liegt darnieder, die Oligarchen sind weiterhin reich, die große Masse der Bevölkerung bitterarm, die Korruption grassiert, das politische Establishment ist niveaulos, und die Perspektiven für die nächste Zeit sind düster. Andererseits haben die Ereignisse am Euromajdan in Kiew sowie der bald darauf folgende lange und blutige Krieg — eine Folge von Putins Aggression — dazu beigetragen, dass sich, wenn auch zaghaft, eine ukrainische Identität abseits sowjetischer Muster und überkommener osteuropäischer Chauvinismen zu entwickeln begonnen hat, eine Identität, die sich auf Werte beruft und dabei Mehrfachidentitäten impliziert. Es ist sicher kein Zufall, dass sich heute viel mehr Menschen, die Russisch als Muttersprache sprechen und sich als Russen bezeichnen (und auch andere) zur Ukraine als Staat bekennen. Auf dem Euromaidan waren übrigens mehr Juden anwesend als Anhänger der rechtsradikalen Partei „Swoboda“ (Freiheit) oder des faschistischen „Rechten Sektors“ zusammen, und auch viele andere „Volksgruppen“ waren dort vertreten, egal, nach welchen Kriterien, ob nun ethnisch, identitär, ein- oder ausschließend, kulturell, religiös oder auch ganz willkürlich man dies definieren möchte. Dass aber in einigen russischen Medien die Mär von der „jüdischen Junta in der Ukraine“ kolportiert wurde, dass auf die angebliche jüdische Herkunft von Poroschenko, Jazenjuk und Timoschenko verwiesen wurde (sogar Klitschko habe jüdische Vorfahren, wurde manchmal behauptet) und von einer jüdischen Alexander Melach „... da fällt herab ein Träumelein“ Verschwörung die Rede war, und dass dieser Unsinn bei schr vielen Menschen in Russland gut ankam und auch heute noch gut ankommt, während zur gleichen Zeit in der Ukraine die Nazi-Kollaborateure Bandera und Schuschkewitsch sowie der Ultranationalist Petljura, dessen Truppen im Jahre 1919 für die Ermordung Zehntausender Juden verantwortlich waren, als „Helden der Ukraine“ geehrt werden und Neonazis sich in paramilitärischen Einheiten organisieren dürfen, zeigt, wie schwach die Zivilgesellschaften in beiden Ländern immer noch sind. Im März 2016 wurde in den ukrainischen Medien stolz darüber berichtet, dass der große amerikanische Schauspieler Dustin Hoffman ukrainische Wurzeln habe. Dustin Hoffman, auch einer von uns!, hieß es sinngemäß. Dustin Hoffman — ein Ukrainer!, lauteten manche Artikelüberschriften. Der Schauspieler sei gerührt gewesen, als er davon erfuhr. Er habe Tränen in den Augen gehabt. Doch warum hatte Dustin Hoffman wirklich geweint? Er weinte während eines Interviews, als er berichtete, dass in der ukrainischen Stadt Belaja Tserkov (Bila Tserkva), aus der seine Vorfahren stammen, vor knapp hundert Jahren, im Februar 1919, ein furchtbarer Pogrom stattgefunden hatte. Als Dustin Hoffmans Großvater, der Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA ausgewandert war und in Chicago eine neue Heimat gefunden hatte, davon erfuhr, kehrte er nach Belaja Zerkow zurück, um seine Eltern zu retten. Seine Eltern hatten den Pogrom überlebt. Er selbst und sein Vater wurden allerdings von den Bolschwiken erschossen, die Mutter, also Dustin Hoffmans Urgroßmutter, musste fünf Jahre in einem sowjetischen Lager verbringen. „Ich bin Jude“, sagte der weinende Schauspieler. „Meine Vorfahren haben überlebt, damit ich leben kann.“ Die Täter des Massakers an Juden im Jahre 1919 waren Anhänger Petljuras, genau jenes „Helden der Ukraine“, dem heute in diesem Land Denkmäler errichtet werden. Diesen Umstand thematisierten die ukrainischen Massenmedien allerdings nicht, als sie über Dustin Hoffmans Geschichte berichteten. Rekonstruktion einer vorstellbaren Begegnung im Jahr 1918, die mein Stiefvater Edmund Theodor Kauer in seiner Autobiografie — und in seiner Erinnerung — aussparte. Edmund Theodor Kauer lebte in den Jahren 1966 bis 1973, zwischen meinem achten und meinem fünfzehnten Lebensjahr, bei uns zuhause. Er war 1899 in Wien geboren, und die Welt, in der meine Schwester und ich aufwuchsen, muss ihm fremd und zum Teil absurd vorgekommen sein. So erzählte er uns, an seinem ersten Schultag — im September 1905 - sei sein Kindermädchen von den Eltern instruiert worden, ihn nicht mehr „Edi“ zu nennen, sondern ab sofort nur noch mit „junger Herr“ anzusprechen. An seinem 14. Geburtstag, dem 15. September 1913, bekam er von seiner Mutter eine Zigarettendose geschenkt, sie wünschte, er möge nun zu rauchen beginnen. Damals sei es schick gewesen, wenn Damen mit Söhnen in Gesellschaft gingen, die für ihre Liebhaber gehalten werden konnten. Er bezeichnete sich als Schriftsteller, hatte aber, weil er sich und seine erste Frau mit Übersetzungen über Wasser gehalten hatte, in seinem Leben selbst nur zwei Bücher geschrieben: Ein schmales Bändchen namens „Die Kirche des Ungottes“, und ein Buch über Film, das ich vor zwei Jahren in der Bibliothek der Conrad Wolff Filmschule in Babelsberg immerhin im Regal fand. Er machte den Eindruck, über alles Bücher schreiben zu können, und die wichtigsten Gestalten des 20. Jahrhunderts persönlich gekannt zu haben. Er war mit Brecht per Du gewesen, hatte den Berliner Zeichner Heinrich Zille getroffen und für eine Zeitung interviewt und ein Gespräch mit Maxim Gorki geführt. Aber selbst von Sokrates sprach er wie von einem alten Bekannten aus früherer Zeit. Morgens vor der Schule konnte er binnen Minuten eine vergessene Deutschhausübung zu jedem Thema spontan Juni 2018 75