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meiner Mutter in die Schreibmaschine diktieren, während ich Zähne putzte, die Inhaltsangabe von Wilhelm Tell beispielsweise, die ich dann doch noch im Unterricht vorweisen konnte. Er hatte volles Verständnis dafür, dass man Hausübungen nicht selber macht. Er verstand nicht, dass meine Schuhe, wie ich sie 1972 mit 14 Jahren trug, nicht mehr so aussahen wie „Herrenschuhe“ im Berlin der zwanziger Jahre, wo er gelebt hatte, dass ein Hemdkragen nun anders geschnitten war, und dass Simon and Garfunkel — fiir uns wenigstens — eine Wahrheit besangen, die, wie er sagte, nicht die seine war. Oder dass das Wort „Popcorn“ heute auch von seiner eigenen Familie benutzt wurde, und nicht nur von den „amerikanischen Mördern vietnamesischer Kinder“, wie er tobend feststellte, denn damals tobte der Vietnamkrieg — auch in ihm. Er selbst war, noch vor der Matura, im Ersten Weltkrieg an der Front gewesen. Während mein Stiefvater, der viele Jahre lang Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war, sich mit seinen zwei angeheirateten Teenagerkindern in der Weise herumschlug, statt uns irgendwo zwischen seiner Wahrnehmung unserer Werte und seinem Ideal von Marxismus eine Schnittflache anzubieten, schrieb er an einem dritten Buch: An „der Autobiographie“. Zum Beispiel folgendes: „Und der Stationsvorsteher hielt seinen Signalstab in der Hand, als ob er sich daran festhielte.“ So beendete er eine kleine Lesung am Wohnzimmertisch zur Feier des Tages, an dem er mit dem ersten Teil seiner Biografie, mit Wien, fertig geworden war. Auch wenn es 44 Jahre her ist, erinnere ich mich heute genau an diesen einen Satz. Vielleicht lautete der Satz aber so: „Und als der Zug anrollte, hielt der kleiner werdende, mit dem Bahnsteig und der ganzen Stadt verschwindende Stationsvorsteher seinen Signalstab in der Hand, als ob er sich daran festhielte.“ Oder: „Und als der Zug endlich rollte, schrumpfte die ganze verhasste Stadt augenblicklich zusammen, wie der Bahnsteig samt dem Bahnhofsvorsteher samt seiner Bahnhofsvorsteheruniform, der seinen Signalstab umklammerte, als ob er sich daran festhielte.“ Der Signalstab in der Hand ist mir jedenfalls immer vor Augen geblieben, als ob wir, die Hinterbliebenen uns daran festhalten sollten, um daran eines Tages hervorzuziehen, was verborgen geblieben war. Auch wenn ich annehme, dass der Satz so lautete, wie ich ihn am Anfang aus dem Gedächtnis zitiert habe, stand alles andere vermutlich zwischen den Zeilen, und ich würde diesen Satz am liebsten immer länger werden lassen und die Sätze davor hinschreiben, und die danach — was er zu Lebzeiten selbst hätte tun sollen, statt anderen postum das Gefühl zu geben, es sei deren Aufgabe —, ja seine ganze verdammte „Autobiografie“, wie ich sie in Erinnerung habe, der nie eine Zeile davon las, aber ihn erlebte, während er daran schrieb. Und erlebte, was er nicht schrieb. Die „hundertjährige Geschichte von der Frau am Brunnen“ ist ein erstes Fragment dessen. Je älter ich selber werde, desto deutlicher steht mir der gesamte Text gestochen scharf vor Augen, zwischen den Zeilen von dem, was er sich abrang, als er mit uns lebte. Dabei geht es mir nicht darum, ob alles, was er mündlich von sich gab, auch in seiner Autobiografie enthalten ist, sondern dass aufgrund seiner alltäglichen Erzählungen — und dem, was er verschwieg oder vergessen hatte —- manches dieser Biografie anders zu lesen — oder eben zu schreiben — wäre: 76 ZWISCHENWELT Dass der Signalstab das letzte war, was er von dem Wien sah, das er um 1920 fluchtartig verließ, nachdem seine Eltern, Edmund und Eleonore Kauer Selbstmord verübt hatten, er, der Richter, durch Gift, und sie mit dem Gewehr... „Als Jägerstochter eben“, wie der Sohn mit verzweifeltem Stolz hinzufügte. Der junge Edmund hatte gerade Lene, die Schwester eines Schulkollegen geheiratet, die an einer Krankheit litt, deretwegen ihr die Ärzte noch vier Monate zu leben gaben. Lene hatte als Bedingung gestellt, er müsse mit dem Kokain aufhören, was er daraufhin sofort tat. Lene lebte noch 45 Jahre. Ausschlag für das fluchtartiges Verlassen der Stadt gab ein Nachbar im Stiegenhaus, der in Hörweite der Jungvermählten zu einem anderen sagte: „Ich bin neugierig, wie lange die junge Frau noch lebt.“ Oder, dass er uns seine Matura als gemütliches Fragespiel von Lehrern schilderte, die aus dem Krieg heimgekehrt waren, mit ihren Schülern, die aus dem Krieg heimgekehrt waren, teils mit ranghöheren Abzeichen, ein Veteranentreffen — und dass er nach einer solchen Matura Chemiestudent und eben, wie viele seiner Studienkollegen, kokainsüchtig geworden war, „weil man da so gut lernen kann“. Erst wenn ich meine Version seiner Selbstbiografie ganz aufgeschrieben habe, werde ich sein Manuskript aus der Kiste nehmen, die neben meinem Schreibtisch steht, der seiner war. Als ich selbst vor einiger Zeit — das heißt 40 Jahre nach ihm — im selben Bezirk, nur einen Weinberg weiter, in meinem eigenen Arbeitszimmer saß, hob ich den Blick von einem Blatt und schaute aus dem Fenster: Ich sah einen Raben auf einem Ast im Kirschbaum schaukeln. Da fiel mir ein, dass er über einen Raben geschrieben hatte, der auf einem Ast schaukelt, während er an seiner Biographie schreiben wollte, und auch ich hatte bereits ein paar Gedanken über den Raben notiert. Da verstand ich, dass sowohl er, 40 Jahre zuvor, als auch ich an diesem Tag den Raben aus ein und demselben Grund erblickt hatten: Weil wir beide, anstatt zu schreiben, aus dem Fenster schauten. Da verstand ich, dass Du, Stiefvater, eine ganze Kurzgeschichte über den Raben schriebst, weil Du an Deiner Biographie nicht weiterschreiben wolltest. Ich eilte über den Weinberg zur Wohnung meiner Mutter und sah aus dem Arbeitszimmerfenster auf die Birke, auf deren oberstem, einst gebogenem Ast der Rabe saß und Dich von der Arbeit an Deiner Biographie abgehalten hat. Der Ast war gebrochen. Ich fragte meine Mutter, ob Du etwa Angst gehabt hättest, Deine Biographie zu beenden, worauf sie sagte: „Er sagte, er sterbe, wenn die Biografie fertiggeschrieben ist.“ Und tatsächlich geschah es so. Der Rabe war ein Todesbote gewesen, und im Nachhinein erschrak ich über meinen Raben vor dem eigenen Fenster. Jetzt ist auch meine Mutter, Deine zweite Frau, gestorben, aber ich habe Euer Arbeitszimmer weitergemietet. Die Birke steht nicht mehr. Ein einziges Mal ist ein Rabe hier am Balkon gelandet und hat entgeisterte, wilde Blicke auf mich hereingeworfen. Sekunden später ist er aufgeflogen. Ich denke, dem Raben haben diese paar Blicke genügt, in denen das Weiße seiner Augen sichtbar war, um zu erfassen, was nun in der Wohnung los ist. Er hat es wohl den anderen Raben mitgeteilt. Einmal sprachst Du über die Möglichkeit, Balzacs Buchtitel „La peau de chagrin“ mit „Die tödlichen Wünsche“ zu übersetzen.