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Wörtlich übersetzt hieße „La peau de chagrin“ etwas wie „Leder des Grams, des Kummers oder des Schmerzes“, im Französischen zugleich ein Wortspiel, weil es einfach auch eine gewisse Lederart bezeichne: Ein Mann besitzt ein Stück wundersamen Leders, das Wünsche erfüllen kann. Je nach Gewichtigkeit des Wunsches schrumpft das Leder, und wenn nichts mehr vom Leder da ist, ist auch das Leben des Mannes zu Ende. Erzähltest Du uns diese Geschichte als Erklärung für Deinen Versuch, Dich selbst von der Erfüllung Deines Wunsches, Deine Biografie zu schreiben, abzulenken? Um ein Schrumpfen des Leders, das Dein Leben darstellte, zu verhindern? Gelungen ist es Dir nicht. Während ich 1972, ein Jahr vor dem Tod meines Stiefvaters in meinem Bubenzimmer damit beschäftigt bin, in eine Schulkollegin meiner Schwester verliebt zu sein, sitzt er zwei Zimmer weiter und schreibt statt an seiner Autobiografie — wie ich heute behaupte — Folgendes: „Belinda, so heißt die Kleine, die meine Stieftochter regelmäßig mit nach Hause bringt. Wenn man so will, heißt sie eigentlich ‚Schön Hübsche‘, denn sowohl ‚Bel‘, als auch ‚Linda‘ heißt ‚schön‘ beziehungsweise ‚hübsch‘.“ Er legt die Feder hin. Ich bin krank vor Liebe, denkt er, und immer noch krank von meinem ersten Krieg. Wenn ich zu Asche geworden bin, denkt mein Stiefvater weiter, so wird mein Stiefsohn diese Biografie erst einmal nicht lesen. So wie er sich standhaft weigert, Landkarten anzuschauen, was er damit begründet, er wolle zuerst selbst die Landkarte zeichnen, wie er sie sich vorstelle, um seinen derzeitigen Bildungsstand — vor dem bewussten Studium des Atlasses - zu dokumentieren. Dieses unbewusste Wissen, erklärt er allen Ernstes, gehe durch nur einen einzigen bewussten Blick auf die Karte verloren. Und da er bisher seine Aufzeichnungen natürlich noch nie auf irgendeinem seiner Un-Wissens-Gebiete gemacht hat, kneift er immer die Augen zusammen — was mich rasend macht — wenn er auf meine Bitte hin den Atlas aus dem Arbeitszimmer zum Esstisch angeschleppt hat und ich ihm etwas zeigen will. Er wird also auch meine Biografie erst einmal nicht lesen. Wie ich ihn kenne, so wird er meinen, er miisse vorher schriftlich festhalten, wie er sich die Autobiografie seines Stiefvater vorstellt, und so wird er sie erst lesen wollen, wenn er selbst, unbeeinflusst, seine Fassung meiner Biografie hergestellt hat, damit er die tatsächliche Biografie mit seinen jungfraulichen Vorstellungen davon vergleichen kann. Seine Mutter sagt, er ist ein Forscher, er sucht eine Formel, um aus der Luft zu greifen und zu verdichten, was in den Zwischenräumen von Menschen schwebt, die zusammenleben. Ich denke, er will einfach erforschen, welche Spuren mein Zusammenleben mit ihm hinterlassen hat — nein - er will die Spuren lesen, die mein Schreiben, meine Gedanken hinterlassen haben, und selbst aufschreiben. Diese Spur, die meine Biografie in seinem jungen Leben hinterlassen hat, interessiert ihn mehr als das, was ich tatsächlich geschrieben habe. Wie ich meinen Stiefsohn weiters kenne, wird er nicht so bald alles aufschreiben. Es werden Jahrzehnte vergehen, und so lange wird er meine Biografie und was ich sonst geschrieben habe, nicht lesen. Wenn er es überhaupt jemals tut. Ich könnte also ruhig weiterschreiben über ihn, was ich will, denn lesen wird es ein Mann in meinem Alter, und nicht der 13-Jährige, der zwei Zimmer weiter vermutlich gerade onaniert — wenn er es von seinen Freunden schon gelernt hat. Was ich bezweifle. Denn vor einigen Tagen, als ich seine Mutter spätabends fragte, wo der Junge denn solange stecke und mit wem er sich herumtreibe, zeigte sie mir einen Stoß Schreibmaschinblätter. Über jedem Gedicht stand entweder der Name meines Stiefsohns oder der eines seiner von zwei Freunde - sie haben dieses Heft über einige Zeit untereinander herumgereicht, jeweils ein paar Tage behalten, etwas hineingeschrieben und dann weitergegeben. Meine Frau hatte es herumliegen schen und rasch abgetippt. „Das sind die, mit denen sich der ‚Junge‘ herumtreibt — „der Bub“, sagte sie. Ich las: „X-Mas Maybe soon Jesus will be born Maybe I'll see him through my tears Somewhere sirens are singing And I have no wax in my ears Sometimes I know that I’ve lost You Sometimes I feel happy about‘ Sometimes I Feel Like A Motherless Child Sometimes when I know that I love You ... Somewhere some hyenas are weeping sbout the lost moon... Maybe soon a God will be born. Ich mag es nicht, wenn Menschen, die Deutsch können, um jeden Preis Gedichte auf Englisch schreiben, und ich glaube nichtan Gott, aber ich sagte zu seiner Mutter: „Wenn der solche Gedichte schreibt, und ... die, dann soll er sich mit ihnen herumtreiben, solange er will.“ Mein Stiefvater dachte: „Soll ich das alles aufschreiben, gehört das zu meiner Biografie dazu, wie soll ich das schaffen, solange leb ich nicht, ich bin wo im 1. Weltkrieg steckengeblieben, ein ewiger Teenager bin ich, und da ist noch etwas, das mir nicht einfallen will... Ich muss einfach radikaler vorgehen.“ Und er nahm die Feder, aber er wollte nichts anderes, als über Belinda weiterschreiben. Er drehte an seiner Schnupftabakbüchse, bis sich eine Öffnung auftat, schüttelte etwas von dem dunklen Pulver in die Höhlung seiner Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger, nahm eine Prise und schnäuzte sich dann. „Ich weiß nicht, wer aller meine Biografie in die Hände bekommt“, dachte er, „wenn ich“ — und er schüttelte seine Schnupftabakdose — „... wenn ich aussehe, wie das da, dies hier ist jedenfalls meine Botschaft an ihn, die er erhält, wenn er es sich verdient hat. Dadurch, dass er selbst immer weiter vordringt in seine unerforschten Gebiete, den Spuren folgt, indem er weiterschreibt, weiterschreibt — eines Tages in seiner Sturheit auch endlich seine Version meiner Selbstbiografie. Und, wie ich ihn einschätze, und ich denke nicht, dass ich ihn überschätze, wird in seiner Version stehen, was ich jetzt denke. Und meine Botschaft wird ihn erreichten. Eigentlich ist diese Botschaft von mir an ihn in Wahrheit seine Botschaft an mich, eine Botschaft, die mich heute bereits beschämt, wenn er so weiterschreibt. Meine Aufgabe ist also, meine Version meiner Biografie jetzt weiterzuschreiben, und wenn es nur irgendwas ist, das die Leute glauben, das ich mir einbilde, erzählen zu müssen. Ich fange damit an, und wenn sie glauben, sie wissen, worum es geht, und sich im Sessel zurücklehnen, dann schreib ich doch plötzlich was ganz anderes. Denn genauso ging es mir mit meinem Leben: Wenn ich wusste, worum es geht, ging es plötzlich um etwas ganz anderes. Jetzt zum Beispiel: Ich wollte mir einen Kognak genehmigen. Ich glaubte, die Kinder schliefen noch, und ich schlich ins Wohnzimmer zur Küchendurcheeiche. Sie stand einen Spalt offen, und als ich versuchte, lautlos die Kognakflasche zu ergreifen, fiel mein Blick auf die Schiebetür dahinter, zur Küche und bis zum Durchgang Juni 2018 77