OCR
In vielen Facetten widmet sich die Ausstellung „Genosse Jude“ im Wiener jüdischen Museum Teilaspekten jüdischer Beteilung an der österreichischen kommunistischen Bewegung und der linken künstlerischen Avantgarde. Eine persönliche Geschichte beschreibt im Begleitbuch Eva Ribarits, die Tochter von Arthur Nürnberger, der nach seiner Rückkehr in einem Stahlbauunternehmen arbeitete. Ende der zwanziger Jahre zog er nach Berlin; nach seiner Entlassung aus Buchenwald 1939 konnte er mithilfe der Quäker nach England einreisen; er kämpfte in der britischen Armee. Laut Ribarits war er 40 Jahre lang, 1928 bis 1968, Kommunist und Zeit seines Lebens ein bewusster Jude. Schade ist nur, dass der Aufsatz ihres Onkels Willi Nürnberger, „Ich will nicht, daß uns so etwas ein zweites Mal passiert“ in dem Buch Fuchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt, herausgegeben von Waltraud und Georg Neuhauser, von ihr nicht zitiert wird. „Der Reisende“ Im Februar ist dieses äußerst interessante Buch erschienen, wobei man sich zuallererst mit dem Autor beschäftigen sollte: Ulrich Alexander Boschwitz wurde 1915 geboren und hatte einen jüdischen Vater, der im gleichen Jahr verstorben ist. Die Mutter, keine Jüdin, aber hellhörig, verließ Deutschland schon im Jahr 1935 Richtung Schweden. Boschwitz gelangte nach einigen Zwischenstationen 1939 nach England, wo er als „enemy alien“ interniert und dann nach Australien verschickt wurde. 1942 meldete er sich mit anderen Gefangenen, um gegen die Nazis zu kämpfen. Bei der Überfahrt wurde aber sein Schiff nordwestlich der Azoren vom deutschen U-Boot U-575 versenkt. Zu diesem Zeitpunkt war sein erster Roman „Menschen neben dem Leben“ schon auf Schwedisch erschienen. Sein zweites Buch, „Der Reisende“, brachte es zu einer englischen Edition („Ihe man who took trains“) und einer weiteren in den USA im Jahr darauf. Auf Französisch erschien das Werk 1945 („Le fugitif“). Es ist dem Herausgeber Peter Grafhoch anzurechnen, dass er sich nun für die erste deutsche Ausgabe eingesetzt hat - siehe auch sein lehrreiches Nachwort. Das Buch erzählt die Geschichte von Otto Silbermann, einem Berliner Kaufmann und Juden. Zu Beginn steht der Streit mit seinem Compagnon, der ihm seinen Anteil auszahlen soll und weniger zahlt, als ursprünglich ausgemacht. In diesem Augenblick stehen die Nazis vor der Tür, fordern vehement Einlass („Aufmachen, Jude, aufmachen“) und Silbermann flüchtet durch die Hintertür. Und so beginnt eine Odyssee durch Norddeutschland, bei der Silbermann ruhelos in Zügen hin- und herfährt, dazwischen überlegt, wo er am besten diskret unterkommen 90 ZWISCHENWELT Thomas Soxberger beschreibt in seinem Aufsatz „Jiddisch und die radikale jüdische Arbeiterbewegung in Wien“ die wenig bekannte Geschichte der Wiener Gruppe des Bunds (des russisch-jüdischen Arbeiterbunds) und der Linken Poale Zion. Weitere Beiträge befassen sich mit Birobidzhan, Theater, Revolution und Kino in und aus der Sowjetunion, der Kulturpolitik der österreichischen Kommunisten im britischen Exil, der Jüdischen Gemeinde als Politikfeld der KPÖ und dem KPÖ-Wirtschaftsapparat. (Das Buch von Erich Klein, einem der Katalogautoren, Die Rote Fini: das Leben der Rudolfine Steindling und die verschwundenen DDR-Millionen, das vom Residenz Verlag für 2017 angekündigt war, wird laut Katalog der Wienbibliothek leider nicht erscheinen.) Auf S. 81 finden sich elf Abbildungen aus der Sammlung des Jiidischen Museums fiir Bruno Freis Buch Jüdisches Elend in Wien (1920) könnte. Anfangs bereitet ihm auch das Schicksal seiner Frau Sorgen, doch sie, keine Jüdin, ist bei Verwandten untergekommen, die sich allerdings weigern, Silbermann mit ihr sprechen zu lassen. In den Zügen lernt er viele verschiedene Menschen kennen, nette und weniger nette. Einer, selbst Jude, gibt ihm die Adresse eines Schleppers und Silbermann schafft es sogar über die belgische Grenze, wird aber von Grenzpolizisten wieder zurückgeschickt. Silbermann ist auch keine einfache Persönlichkeit und nicht unbedingt eine Identifikationsfigur, doch als Charakter sehr wohl vorstellbar. Und er ist in seinen ehrlichen Augenblicken ganz deutlich: „Seien Sie froh, dass Sie nicht zu der neuen Gemeinschaft gehören! Eine schlechtere, diimmere und brutalere lässt sich nicht denken. Eine gute Minderheit ist noch immer besser als eine schlechte Mehrheit.“ Das Ende der Geschichte darf hier natürlich nicht verraten werden, aber es ist klar, dass es kein gutes sein kann. Bis dahin konnte man einer glaubwürdigen, spannenden Geschichte folgen, die ich interessierten Lesern ans Herz legen möchte. Leichte Parallelen zu Werfels „Cella“ drängen sich auf. Wenn man bedenkt, dass der Autor, als er das Buch verfasst hat, schon drei Jahre im Ausland lebte, ist es erstaunlich, wie genau er die Lage in Deutschland beschreiben kann. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, wann man was hat wissen können. Roberto Kalmar Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende. Hg. von Peter Graf. Stuttgart: Klett-Cotta 2018. 303 S. € 20,allerdings werden die Namen der Fotografen Anton und Hans Bock nicht genannt. Eines der bemerkenswertesten Objekte der Ausstellung ist ein Teppich mit dem Konterfei Stalins, das mit einem Herzlbart übermalt wurde. Die Entstehungsgeschichte ist nicht bekannt; der Teppich Anton Feltons ist heute Teil der Sammlung und wurde in Israel erworben. Unter den Videos, die in der Ausstellung zu hören und zu sehen sind, befinden sich Interviews mit Nina Jakl und dem russischen Schriftsteller Gennadi Kagan. E.A. Genosse Jude. Wir wollten nur das Paradies auf Erden. Comrade Jew. We only wanted Paradise on Earth. Hg. von Gabriele Kohlbauer-Fritz und Sabine Bergler im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Wien: Amalthea Verlag 2017. 259 5. € 29,95 Verstreutes Geht mir nicht aus dem Ohr — der vor Jahren auf der Straße in Wien-Favoriten aufgeschnappte Satz „Dorthin gehen... zum Sterben...?“ Ich glaube, ein ziemlich junger Bursche sagte das, inmitten eine Gruppe von jungen Männern, die wie Nordafrikaner, Araber vielleicht aussahen. Es war die hohe Zeit des „Islamischen Staates“, für den in den Dschihad zu ziehen auch in Europa manche Imame warben. Kam die Gruppe aus der Moschee? War es wirklich so, daß schon auf der Straße darüber geredet wurde, sich jenem Terrorregime anzuschließen? Jedenfalls stand der Satz, bang und brüchig, auf Deutsch in der Luft, vielleicht in bewußter Opposition zu den Umstehenden. Er begleitet mich als kleiner Friedensengel.