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Der Graben bleibt offen: In 20 österreichischen Orten und drei bayerischen Städten gibt es einen Südtiroler Platz. Ihren Namen erhielten diese Plätze (sowie mehrere Südtiroler Straßen und nach Südtiroler Orten benannte Straßen) als Zeichen der Solidarität mit der deutschsprachigen Bevölkerung des Alto Adige und aus Protest gegen die Abtrennung des südlichen Teils von Tirol von „Restösterreich“ nach dem Ersten Weltkrieg. Die Solidarität der Bevölkerung mit den Menschen, die ab 1940 aufgrund der sogenannten „Option“ aus Südtirol großteils nach Österreich (damals „Ostmark“) umgesiedelt wurden, hielt sich jedoch in Grenzen. Die „Option“, festgelegt im Hitler-Mussolini-Abkommen von 1939, zwang die nichtitalienischsprachigen BewohnerInnen Südtirols sich zu entscheiden zwischen dem Verbleib im italienischen Staat (und dem Verlust aller Minderheitenrechte, inklusive der Muttersprache), oder der Aussiedlung ins Deutsche Reich. Die sich fürs Weggehen entschieden („Optanten“), ließen sich vorwiegend in Tirol und Vorarlberg nieder, einige kamen (unfreiwillig) auch in anderen Bundesländern unter. Viele der Auswanderer kehrten nach 1945 in ihre erste Heimat zurück. Elisabeth Malleier ist Historikerin und Autorin, geboren und aufgewachsen in Siidtirol, studiert hat sie in Innsbruck, Berlin und Wien. Sie lebt in Wien „als Angehörige des akademischen Prekariats“ — so die Info am Klappentext. Beide Eltern Malleiers stammen aus Familien, die sich 1940 für die Übersiedlung ins damalige Deutschland entschieden und die zwölf Jahre später nach Südtirol zurückgingen. In „Rabenmutterland“ zeichnet Elisabeth Malleier die Geschichten beider Familien, ihrer Familie nach und erzählt auch ihre eigene Lebensgeschichte. Die Leserschaft darf sich aber keineswegs eine abgerundete Familiengeschichte erwarten, wo zu jedem Namen im „Stammbaum“ eine Biografie mit herausragenden Lebensstationen zu lesen ist. Es ist eine fragmentarische Rekonstruktion, mit Lücken, die die Autorin nicht kaschiert. Vieles bleibt dunkel, unklar. Einerseits, weil sich die Quellenlage mitunter als dürftig erweist— Angehörige der unteren Schichten hinterlassen kaum schriftliche Dokumente oder andere Spuren ihres Daseins —, andererseits weil die meisten der „ProtagonistInnen“ bereits verstorben sind und somit als Auskunftspersonen ausscheiden, und noch lebende Personen sich oft weigern auf Fragen einzugehen. Manchmal kann spekuliert werden, manchmal bieten sich mehrere Varianten als Antwort auf offene Fragen, manchmal bleibt nur ein „Ich weiß es nicht“ zu konstatieren. Einige Male zitiert Elisabeth Malleier Aussagen und Erinnerungen anderer, die in der selben Situation wie ihre Vorfahren waren, zum Beispiel, wenn es darum geht, wie es ihrem früh verstorbenem Vater als Schulkind im faschistischen Italien ergangen sein mag. Grundsätzlich geht Malleier mit den Methoden der Historikerin vor, wenn sie die Geschichte ihrer Familie, und weiters einen Teil der Geschichte Österreichs und Südtirols untersucht. Sie verwendet Archivmaterial, Kirchenregister, wissenschaftliche Studien, oral history usw. in ihrer Recherche. „Rabenmutterland“ ist dennoch keine wissenschaftliche Monografie, sondern eher ein literarisches Werk, nicht im üblichen Sinn von „Fiktion“, vielmehr ist das Literarische dieses Texts in der Erzählhaltung auszumachen, die eine überaus subjektive und parteiergreifende ist. Paulus Hochgatterers nur etwa hundert Seiten starkes neuestes Buch „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“ beginnt mit einem beinahe friedlichen Augenblick in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs. Nelli, die Protagonistin der Erzählung, sitzt in der Wiese und betrachtet die umliegende Mostviertler Landschaft. Das Mädchen ist dreizehn Jahre alt und lebt, seit ihre gesamte Familie bei einem Bombardement ums Leben gekommen ist, auf einem Bauernhof in der Nähe von Amstetten im westlichen Niederösterreich. Über ihr Vorleben spricht sie nicht, ihre Pflegeeltern nennt sie „Großvater“ und „Großmutter“ und in die Reihe der fünf Töchter fügt sie sich mehr schlecht als recht ein. Anstatt die Schule zu besuchen, muss sie zuhause bleiben, beobachtet, hört zu, schreibt in ihr Heft. So verbleibt die eigensinnige Nelli in einer Außenseiterrolle. Wirklich gut versteht sie sich nur mit dem älteren Bruder des Bauern, der sich selbst als belesenen, „spinnerten“ Knecht bezeichnet. Was jedoch alle Bewohner des Bauernhofs verbindet, ist eine durchaus regimekritische Haltung, die sie mehr oder wenig offen äußern. Über weite Strecken lässt der Autor Nelli selbst die Geschehnisse in und um Amstetten zwischen 14. März und 1. April des Jahres 1945 aus ihrer Perspektive schildern. Paulus Hochgatterer, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch Kinderpsychiater ist, nimmt die Sichtweise des Kindes überzeugend ein. Die Sprache, die er dem Mädchen in den Mund legt, zeichnet sich durch kurze Sätze, bisweilen umgangssprachliche Strukturen und bildhafte sowie naiv poetische Beschreibungen aus. Auf besonders einfühlsame Weise lässt er Nelli über ihre Mitmenschen nachdenken und fügt so ihrem Bericht detailreiche Charakterzeichnungen hinzu. Nelli scheint außerdem über eine besondere Beobachtungsgabe zu verfügen und hat eine ausgeprägte Phantasie, die sie, oft ohne es zu wollen, in manchmal durchaus unterhaltsamen Bildern über die trostlose Realität legt. In ihrer Dabei geht es der Autorin nicht darum, zu rufen: Seht her, lest! Das ist meine Geschichte. Zwar sind es konkrete Personen, von denen wir erfahren, ihre Geschichte(n) sind allerdings exemplarisch als Biografien von (Hilfs) ArbeiterInnen, Besitzlosen, Angehörigen einer Minderheit in einer definierten Epoche in einem bestimmten geografischen Raum. Der überwiegende Teil jener, die gegen einen Verbleib in Italien stimmten (ca. 90%), waren Angehörige des Proletariats. Auch die Bewegungen der Migration und Remigration dieser Bevölkerungsgruppe dürften als typisch gelten. Um die Geschichte (Historie) und die Geschichten (Biografien) LeserInnen nahe zu bringen, benützt Elisabeth Malleier unterschiedliche Textsorten, literarisch aufbereitete eigene Erinnerungen, Zitate, sachliche Erklärungen etc. Sie selbst beschreibt ihr Buch so: „Das ‚Zwitterwesen‘ dieses Texts als einerseits wissenschaftliche Arbeit und zugleich als auto/biografische Erzählung, kann als Ausdruck struktureller Gewalt gesehen werden, als Graben, der die Wissenschaft und die Erfahrungen der sogenannten Unterschicht voneinander trennt.“ Eine Überbrückung dieses Grabens verweigert die Autorin dezidiert, eine solche würde den „endgültigen ‚Seitenwechsel‘, bedeuten, schreibt sie, „nämlich das vollständige Zurücklassen und die Verleugnung des eigenen Herkommens (...).“ Jenny Legenstein Elisabeth Malleier: Rabenmutterland. Meran: Edizioni alphabeta; Klagenfurt/Celovec: Drava Verlag 2016. 174 S. € 14,Vorstellungskraft verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was sie tatsächlich sieht oder gesehen hat, und dem, was sie imaginiert - besonders in unangenehmen oder gefährlichen Situationen. „Ich habe keine Ahnung, warum ich mir solche Dinge vorstelle“, kommentiert sie in der Erzählung ihre Visionen, die allerdings immer einen Kern von Wahrheit enthalten oder der Wahrheit auf verschlungenen Pfaden ausweichen, sodass sie umso sichtbarer wird. Während der Autor also im Großteil des Buches Nelli sprechen lässt, berichtet in einigen wenigen, verstreuten Kapiteln ein neutraler Erzähler wie in einer Chronologie von den Geschehnissen. Möglich ist aber auch, dass es sich bei diesen Passagen um Geschichten handelt, die Nelli aufgeschnappt und in ihr Heft notiert hat. Hier kippt jedenfalls die klare Unterscheidung zwischen Realität und Imagination, die in Nellis Gedanken nur leicht geschwankt hat, endgültig. Was beispielsweise wie ein Ausschnitt aus einem amerikanischen Helden-Filmdrama wie Juni 2018 93