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Eine Vorreiter-Rolle spielte das mittlere Westfrankreich entlang der Atlantikküste. Dabei handelte sich oft um frisch industrialisierte Gebiete mit jungen Arbeitern, die meist aus bäuerlichen, katholisch-konservativen Familien stammten. Großfirmen hatten Produktionsstätten dorthin verlagert, nicht zuletzt weil es in dieser Region ein Überangebot an billigeren und vermeintlich willigeren Arbeitskräften gab. Ein relevanter Teil der Arbeiter bekamen keine Monatsgehälter, sondern bloß Stundenlöhne. „Caporalisme“ Der Gewerkschaftsbund CGT, der de facto der Kommunistischen Partei unterstand, gab in den alten Industrie-Revieren meistens den Ton an und sorgte für eine gewisse soziale Abfederung. Aber in den neueren Fabriken entfaltete sich auf Seiten der Unternehmer Machtgehabe und Selbstherrlichkeit in ungebremster Manier. Aggressive Abteilungsleiter („Petits chefs“) sorgten für ein mieses Betriebsklima. Die jungen Arbeiter an der untersten Werksetage klagten über die Akkord-Arbeit, die Geschwindigkeit der Fließbänder und die Antreiberei der „Petits chefs“. In Berichten der damaligen französischen Staatspolizei, der „Renseignement generaux“, war häufig von „Caporalisme“ (militärischer Umgangston gegenüber Untergebenen) die Rede. Die staatlichen Schnüfller sollten mit ihren Warnungen Recht behalten. Die Stadt Caen in der Normandie wurde schon im Januar 1968 Schauplatz von Straßenschlachten: Arbeiter und Studenten kämpften mit den CRS („Compagnies républicaines de sécurité“ — Polizei-Sondertruppen). Die Historikerin Bantigny, die eines der seltenen Bücher veröffentlichte, das sich ausführlich mit der Arbeiterbewegung von 1968 beschäftigt (Ludivine Bantigny: 1968. De grands soirs en petits matins. Paris: Editions du Seuil 2018), zitiert aus den Archiven der SicherheitsBehörden: Diese meldeten nach Paris Zusammenstöße, „wie sie noch nie in Friedenszeiten stattfanden“. Die CRS verfeuerten sogenannte „offensive“ Tränengasgranaten und droschen mit Gewehrkolben auf die Menge ein. Die Arbeiter griffen mit Pflasterseinen, Stahlbolzen und Zangen an. „Aufdem Gehsteigsah man Blutlacken“. Im Vorlauf der 68er Revolte kam es in Westfrankreich (ab 1964) auch zu gemeinsamen Aufmärschen von Industrie-Arbeitern, Landarbeitern und Jungbauern, die vom Ruin bedroht waren. Dabei wurden Kontakte geknüpft, die später, während des Generalstreiks im Mai 1968, noch eine wichtige Rolle spielen sollten. Im Großraum um Paris, im Mai 1968, scheiterten die linksradikalen Gruppen im ersten Anlauf für einen Schulterschluss mit den Arbeitern an der Kommunistischen Partei und ihrem CGT-Gewerkschaftsbund. Die stalinistisch geprägte KP mauerte gegen alle linken Strömungen, die sich ihr nicht unterwarfen. Ihre Spitzenfunktionäre hetzten besonders gegen den populären, franko-deutschen 96 _ ZWISCHENWELT Studenten-Aktivisten Daniel Cohn-Bendit, den sie als „deutschen Anarchisten“ brandmarkten — beide Prädikate sollten Cohn-Bendit gleichermaßen disqualifizieren. Aber bei den jungen Arbeitern im Westen war der Sperrgürtel der KP und des CGT gegen die Mai-Bewegung viel zu löchrig. Dort verbreiteten sich die Streiks wie ein Lauffeuer, das von einem neuen Gewerkschaftsbund, dem CFDT, noch angeheizt wurde. Uber einen seltsamen Umweg hatten sich Veteranen des Linksradikalismus und Anti-Stalinismus aus der Umklammerung der KP-hörigen CGT zu anderen, ursprünglich weniger „links“ orientierten Gewerkschaftsbünden gerettet. Der eingangs erwähnte katholische Gewerkschaftsbund CFTC hatte sich 1964 gespalten, wobei eine linke Mehrheit einen neuen, nichtkonfessionellen Verband, den CFDT, gründete. Katholische Geburtshelfer des Generalstreiks Maßgeblich beteiligt am CFDT waren die katholische „Jeunesse ouvriere chretienne“ (Christliche Arbeiterjugend) Westfrankreichs und die „Arbeiter-Priester“ (junge, sozial engagierte Kleriker, die gegen den Willen der Kirchenführung in Fabriken anheuerten). Er wurde darüber hinaus schnell zum Sammelbecken der neuen, alternativen Linken. In den 1970er Jahren spielte er eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau der französischen SP. Heute ist der CFDT Frankreichs stärkste Gewerkschaft in der Privatwirtschaft und pragmatisch ausgerichtet. Aber 1968 trug der CFDT den Mai-Aufstand so lange mit, bis CGT und KP auch in ihren Bastionen die Ansteckung der Belegschaften durch die Streikbewegung nicht mehr verhindern konnten. Der Generalstreik begann Mitte Mai. Ähnlich wie die Sorbonne-Uni oder das Théatre de l’Odeon in Paris wurden auch besetzte Fabriken zu Orten der freien Debatte. Künstler und Wissenschaftler traten auf, es wurde musiziert und gesportelt. Werks-Komitees warteten die Maschinen, und hielten diese, wo es notwendig war, am Laufen. Als in Folge des Generalstreiks der Wirtschaftsverkehr und die (ebenfalls massiv bestreikten) Behörden weitgehend erlahmten, setzten — wiederum vor allem in Westfrankreich — überbetriebliche Komitees der Streikenden eine provisorische Parallel-Verwaltung in Gang: die Nahrungsversorgung wurde stellenweise durch Absprache zwischen Gewerkschaften, Bauern und einem Teil der Lebensmittelhändler organisiert. Die Müllbeseitigung wurde in Eigenregie durchgeführt. Für Spitäler gab es eigene Lieferungen. Nach fast zwei Wochen Generalstreik kippte die Stimmung an der Staatspitze. Der damals 77 jährige De Gaulle zeigte sich entmutigt. Jüngere Mitarbeiter, darunter der spätere Staatschef Jacques Chirac, ergriffen die Initiative für eine Verständigung mit der KP und dem CGT, die ihrerseits ein Ausufern der Aufstandsbewegung fürchteten. Bei Verhandlungen am 27. Mai wurde, unter anderem, eine generelle Anhebung des Mindestlohns vereinbart. Am Tag danach wurden aber auf Vollversammlungen in den größten Fabriken die Zugeständnisse der Regierung, trotz Fürsprache der CGT, als unzureichend abgelehnt. Daraufhin verzagte De Gaulle und verließ am 29. Mai das Land. Er hatte sich zu einem Vertrauten, General Jacques Massu, in der französischen Stabsführung in Deutschland, bei Baden-Baden, begeben. Massu konnte De Gaulle von seinen Rücktritts-Plänen abbringen. Dass De Gaulle am 30. Mai nach Paris zurückkehrte und sich seine Anhänger wieder fassten, bewahrte Frankreich vermutlich vor einem Machtantritt einer damals zutiefst gespaltenen und höchst verworrenen Linken. Die Versorgungskrise hatte auch Teile der Bevölkerung zermürbt, die anfänglich den Mai-Aufstand mit Wohlwollen betrachteten. In mehreren Branchen hielt der Ausstand bis Mitte Juni. Aber dem CGT gelang es schließlich doch etliche Streiks abzuwürgen. Die Wiederaufnahme der Arbeit vollzog sich oft in einer Stimmung der Enttäuschung und des gewerkschaftlichen Zwists. Bei letzten Zusammenstößen mit CRS-Truppen starben am 11. Juni zwei Arbeiter einer Peugeot-Auto-Fabrik bei Montbeliard (Östfrankreich). Einer wurde erschossen, einer stürzte zu Tode. In den meisten Fabriken hatten nach kurzer Zeit die „Petits chefs“ wieder das Sagen und rächten sich mit Schikanen an Streikführern. Um Lohnerhöhungen und - geringe — Arbeitszeitverkürzungen wettzumachen, wurde der Arbeitsrhythmus verschärft. Am 30.Juni siegte bei vorgezogenen Parlamentswahlen eine konservative Allianz, die sich um De Gaulle geschart hatte. Freilich: Ein Jahr darauf scheiterte De Gaulle bei einer Volksabstimmung und trat zurück. Dabei hatte De Gaulle damals eine durchaus sinnvolle Reform zwecks Abbau des staatlichen Zentralismus vorgeschlagen. Dieses Reformprojekt hatte der Staatspatriarch ausgerechnet einem Wortführer des Mai-Aufstands, dem späteren sozialistischen Premierminister Michel Rocard, entlehnt, und es sollte auch tatsächlich später von einer Linksregierung umgesetzt werden. Die Saat der Aufstandsbewegung von 1968 ging 13 Jahre später auf. 1981 zog der Sozialist Frangois Mitterrand im Elysee-Palast ein. Die von ihm geführte Linksregierung aus SP und KP trug allerdings schwer an den ideologischen Altlasten - eine Folge jener doktrinären Frontstellung zwischen arroganten Unternehmern und zersplitterten Gewerkschaften, die bereits den Generalstreik von 1968 mit verursacht hatte. Danny Leder, geb. 1954, in Wien aufgewachsen, seit 1982 in Paris als Journalist tätig. Korrespondent der österreichischen Tageszeitung „Kurier“. Webportal: www. nachdenken-in-paris.net