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— Agnes Smedley — wie sie berichtete Vicki Baum über den japanischen Aggressionskrieg gegen China, wie Agnes Smedley schrieb sie ein feministisches Kultbuch; — Kurt Weill — wie er hatte sie die großen Erfolge in Berlin und am Broadway — und die erfolgreichen Musical-Revivals; — James M. Cain — wie er schrieb sie Romane mit kriminalistisch rasanten, fast filmischen Handlungsablaufen; — Somerset Maugham — wie er war sie begabt mit dem Sinn fiir gesellschaftliche Tiefendimension, dem Talent ftir klare Erzahlführung und gefühlsbewegende Erzählinhalte; wie er schrieb sie erfolgreiche Boulevardstücke; Maugham hatte einmal vier Stücke gleichzeitig an Londoner Theatern laufen, Baum dito am Broadway; — Colette — wie sie artikulierte Vicki Baum kompromisslos weibliche Befindlichkeit vis-a-vis patriarchalischem Herrschaftsanspruch; Vicki Baum wurde in Frankreich zur meistiibersetzten deutschsprachigen Autorin; umgekehrt bearbeitete sie Colettes „Gigi“ für die Bühne; — Yehudi Menuhin — aber mit der Harfe. Wie er war sie ein musikalisches Wunderkind, sie trat mit zwölf Jahren erstmals öffentlich auf, war jahrelang Berufsmusikerin, bis sie im Ersten Weltkrieg das Instrument gegen eine Wiege eintauschte; — Billy Wilder - sie stammte wie er aus Wien, arbeitete in Hollywood an rund 20 Filmen mit, in denen die größten Stars jener Zeit mitspielten, darunter die Garbo („Grand Hotel“, „Die Kameliendame“) sowie bei einem anderen Kultfilm von damals, „Dance Girl Dance“ aus dem Jahr 1940. Bis zu ihrem Lebensende wurden mindestens noch ein halbes Dutzend weitere deutsche und französische Verfilmungen nach ihren Romanen gedreht. Damit nicht genug, wurde das zierliche Persönchen im Berlin der Zwanzigerjahre (wie Brecht und andere Literaten jener Zeit) zur leidenschaftlichen Boxerin. Den Weltmeistertitel erhielt sie freilich in der Literatur: Die gebürtige Wienerin war nicht nur die auflagenstärkste, sondern auch die ungewöhnlichste deutschsprachige Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Verbrannt, verkannt Dass die Nazis ihre Bücher verbrannten, verstand sich von selbst. Dass sie den dezidierten Friedensfreund Remarque verbrennen würden, war ebenfalls klar. Sie diffamierten ihn zusätzlich, indem sie behaupteten, er habe ja gar nicht am Krieg - dem Ersten Weltkrieg - teilgenommen. Der ironische Titel seines Romans — „Im Westen nichts Neues“ — akzentuierte im Bewusstsein der Nazis schließlich nur noch die vaterlandsverräterische Tendenz dieses Autors. War es doch kurz vor dem vermeintlichen Endsieg der deutschen Truppen gegen Frankreich und England, dass Amerika am 8.8.1918 mit zwei Millionen Mann von Westen her gegen die ahnungslose und schon von falscher Siegesgewissheit beduselte deutsche Wehrmacht heranbrauste. Die Spanische Grippe, die weltweit in Windeseile nahezu 100 Millionen Tote forderte - mehr als der gesamte Weltkrieg an Gefallenen - tat ihr Übriges. Das deutsche Oberkommando hörte immer nur die Nachricht „Im Westen nichts Neues“, als längst schon der Sturm, aus dem Westen kommend, gegen die deutschen Truppen den entscheidenden Schlag getan hatte. Die Nazis sahen in Remarque einen ihrer Hauptgegner, als hätte Remarque selber den Dolch in den Rücken der vaterländischen Truppen gestoßen. In Vicki Baum dagegen sahen sie eine typisch kosmopolitische Jüdin, eine vaterlandsvergessene Schlampe, die braven deutschen Mädchen zu Unzucht und Abtreibung riet. Allzuwillig erinnerten sich die Bücherverbrenner an Vicki Baums ersten großen kontinentaleuropäischen Bestseller, die Geschichte der Chemiestudentin Helene Willfuer aus dem Jahr 1929. Der Roman, einmal in Deutschland und einmal in Frankreich verfilmt, galt zu seiner Zeit bei der Kritik als „schamlose, schweinische Sensationsmache“. Für die Autorin selber war es „die durchaus anständige Geschichte einer Studentin, die schwanger wird, einen Abtreibungs- und einen Selbstmordversuch macht, sich schließlich aber über ihre Nöte erhebt und sich durchkämpft.“ Die Publikumsreaktionen waren gleichwohl eindeutig. Zitat Vicki Baum, 1960: „Ich muss immer lächeln, wenn mir weißhaarige Damen berichten, sie hätten die ‚Helene Willfuer‘, dieses verpönte, unanständige Buch, als Schulmädchen heimlich auf dem Klo gelesen; muss deshalb lächeln, weil ich dann im Geist eine ganze Generation junger Mädchen - und ihrer Mütter — auf zahllosen Toilettensitzen sche, wie sie meinen vielgescholtenen Roman lesen.“ Eher stiefmütterlich wurde Vicki Baum von der Exilforschung der Jahrzehnte nach dem Krieg behandelt. Oder man sprach ihr gleich ganz das Recht ab, zur deutschen Exil-Literatur dazuzugehören. Sie habe ja nicht erst bis Hitlers Machtantritt gewartet, sondern sei bereits ein Jahr vorher abgewandert — und noch dazu ausgerechnet nach Hollywood. Und schließlich habe sie in Amerika ja nicht ihre Bücher für ein unerreichbares Publikum auf Deutsch geschrieben, sondern ab 1941 gleich für ein internationales Lesepublikum, auf Englisch. Die Werke der so leichtfertig geschmähten Autorin auch noch zu lesen ersparte man sich. Zu beschämend wäre sonst wohl die Einsicht gewesen, dass Vicki Baum in ihrer Person die Bemühungen der gesamten übrigen deutschen Exil-Literatur übertraf — soweit Literatur eben zur Mobilisierung gegen Hitler überhaupt etwas beitragen konnte — und zugleich in dieser Zeit des internationalen Deutschenhasses als „deutsche“ Autorin deutsche Menschen vor ein globales Publikum brachte. Fazit Der Nobelpreis für Literatur wurde in den Jahren 1940, 41, 42 und 43 nicht vergeben. Welcher Autor hätte damals das Ansehen der deutschen Literatur zusammen mit einer dezidiert antifaschistischen Haltung wohl besser repräsentiert als Vicki Baum? Und heute, wenn der Preis, nach einem internen Grapscher-Skandal, für ein Jahr ausgesetzt wird — an wen wird man ihn im nächsten Jahr einigermaßen mit Würde neu vergeben können? Wäre nicht jetzt ein posthumer Preis ftir Vicki Baum — sozusagen „ein Nobel-Preis mit der Flaschenpost“ — eine noble Geste, die auch dem Renommee des Preises - der einer Jahrhundertfrau nachgereicht wird — wieder auf die Beine hilft? Ich denke schon — aber... Hallo? Hört das irgendjemand in Schweden? Tom Appleton, geb. 1948 in Berlin, Kindheit in Teheran, Gymnasial- und Universitätsjahre in Deutschland. Ab 1972 Journalist, Übersetzer, Theaterproduzent in Neuseeland, ab 1988 freier Journalist, Übersetzer, Englischlehrer in Wien. Seit 2007 wieder in Neuseeland. 2016 erschien sein Roman „Hessabi“ im Wiener Czernin-Verlag. — Appletons Text ist zuerst auf der Internet-Seite „Telepolis“ erschienen. November 2018 7