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Franz Stadler Alle paar Jahre wieder geistert sie durch Österreichs Feuilletons: die im sibirischen Perm aufgewachsene Galina Djuragina, verheiratete von Hoyer, die den Bolschewiken nach Österreich entflohene aufrechte Zeitzeugin, die sich heroisch als „Milchfrau in Ottakring“ durchschlug, mit ihren russischen „Tagebuch“- Romanen in den 1930er- Jahren reüssierte, ehe sie schließlich von den Nazis nach 1938 unterdrückt und verfolgt wurde - die Rede ist von der unter ihrem Pseudonym bekannten Alja Rachmanowa. Die literarhistorische Marginalie wird zum aktuellen politischen Ärgernis, wenn der ORF just in einem dokumentarischen Filmbericht (im März) zum Erinnerungsjahr 1938 die Rachmanowa als geradezu paradigmatische Märtyrerin des NS-Regimes stilisiert und in diesem Sinne deren Biographin Ilse Stahr breiten Raum gibt.! Stahr verspricht, das „Geheimnis der Milchfrau in Ottakring“ zu enthüllen, doch für die Hagiographin Stahr ist Rachmanowa eigentlich kein Geheimnis, denn für sie ist klar: Romane in Tagebuchform sind identisch mit den Tagebüchern, und Tagebücher sind unverfälschte Zeitzeugnisse. Unverfälscht sind demnach auch Rachmanowas sonstige Aussagen zur eigenen Biographie — wie die folgende: Nach ihrer Flucht aus Salzburg, wo sie 1927-1945 gelebt hat, in die Schweiz, verfasste Rachmanowa am 11. Mai 1945 auf Bitte des Verlegers Max Rascher eine Stellungnahme zu ihrer politischen Einstellung: „Ich will Ihnen gleich die wichtigsten Tatsachen zur Entkräftung der Vorwürfe anführen, die einzelne Personen gegen mich erheben.“ Als Fakten führt sie an: Nichtaufnahme in die Reichsschrifttumskammer, Boykott der Vortragsreisen, Film- und Bücherverbot, Verhör bei der Gestapo und Nichtbeachtung bei kulturellen Veranstaltungen. Weiters hat sie hervorgehoben, dass kein Mitglied der Familie Hoyer jemals bei der NSDAP gewesen sei. Sie habe weder auf die Drohungen noch auf die Anwerbungen der Nationalsozialisten ideologisch entsprechend reagiert. Zusammenfassend stellte sie fest: „Der Nationalsozialismus hat mich als Schriftstellerin umgebracht und wenn er gesiegt hätte, hätte es für mich auch niemals mehr eine Auferstehung gegeben. Ist es da nicht geradezu absurd, mich der Anhängerschaft des Nationalsozialismus zu beschuldigen?“? Unbekümmert um quellenkritische oder sonstige Skrupel macht sich Stahr diese „Lesart“ zu Eigen — übrigens prominent unterstützt vom alldieweil gar gründlichen Literaturdetektiv Dietmar Grieser, der sich nach einer Recherche in Form der Lektüre des „vergriffenen“ Romans für eine „Wiedergutmachung“ an der „zweimal von Amts wegen aus dem Verkehr Gezogenen“ stark macht.? Ihren Aufstieg zur Autorin mit 100.000er-Auflagen in den Jahren von 1933 bis 1938 verdankt Rachmanowa vor allem ihrem Publikum in Nazi-Deutschland, das durch die Leipziger Dependance des Pustet-Verlags unbehelligt bedient werden konnte. Mehr noch: „1936/1937 reiste Alja Rachmanowa im Zuge ihrer Lesungen nach Münster, Freiburg, Offenburg, Köln, Wuppertal, Bielefeld, Düsseldorf, Halle, Göttingen, Frankfurt, Heidelberg und München. Überall wurde sie umjubelt und gefeiert, bis es 1938 zum Bruch in ihrem Leben kam. “* 8 _ ZWISCHENWELT Ein besonderer „Verehrer“ war Propagandaminister Joseph Goebbels, der in einer Tagebuchnotiz vom 6. Juni 1936 Rachmanowas Roman „Die Fabrik des neuen Menschen“ (1935) als mustergültige „Darstellung der Hölle Sowjetrusslands“ qualifizierte.° Dieser Roman wurde im März 1936 von der mit der faschistoiden Action Francaise eng verbundenen Academie d’education et d’entre-aide sociales als bester antibolschewistischer Roman des Jahres mit 50.000 Francs prämiert.‘ Dies alles ist für Stahr nicht weiter hinterfragenswert. Stattdessen bietet sie dem Leser einige irreführende Spuren und konnotative Täuschungsmanöver zur „Antifaschistin“ Rachmanowa an: Beiläufiges wird aus Thomas Bernhards „Die Ursache“ zitiert, doch seine durch den Kontext sich aufdrängende Analyse des (Salzburger) „katholischen Nationalsozialismus“ bleibt ausgeblendet.’ Stefan Zweigs „berühmter Briefan Romain Rolland vom 2. Mai 1938“ wird erwähnt, nicht aber sein Inhalt. „Salzburg, die Stadt, die am stärksten nazistisch war ... die Stadt, die gestern als erste in Österreich unsere Bücher verbrannt hat“; wäre er nicht weggegangen, wäre er „heute in einem Konzentrationslager oder schon ermordet.“ An anderer Stelle suggeriert Stahr, die Rachmanowa sei auf einer Liste „unerwünschten Schrifttums“ gemeinsam mit Autorinnen wie Marieluise Fleißer, Mascha Kaleko oder Erika Mann gestanden.® Besonders dreist ist Stahrs explizite Gleichsetzung der Rachmanowa mit der Sozialistin Lili Körber: „Eine ähnliche Absicht verfolgte auch die in Moskau geborene Wienerin Lili Körber, die mit ihrem Roman Eine Frau erlebt den roten Alltag. Ein Tagebuchroman aus den Putilowwerken (1932) ebenfalls Aufklärung leisten wollte ... Lili Körber erlebte ein ähnliches Schicksal wie Alja Rachmanowa: In Russland mit ihrer Familie 1915 zur Ausreise gezwungen, erlangte sie in Österreich für kurze Zeit Berühmtheit, wurde ebenso wie Alja Rachmanowa von den Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben, wodurch ihre schriftstellerische Karriere abrupt endete.“” Nun, Körbers (skeptische) Leningrad-Reportage war nicht feindselig gegenüber der Sowjetunion und ihren Mühen „um den richtigen Gang des Lebens“; nach 1934 schrieb sie einen (rasch verbotenen) Roman „Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland“ und eine Hitler-Satire, im März 1938 ging sie ins Exil, ihr Text „Eine Österreicherin erlebt den Anschluß“ erschien schon bald in einer Schweizer Zeitung als Fortsetzungsroman. Was also tat Rachmanowa „ebenfalls, ebenso“?! „Drei Leiterwagen voll Bücher haben wir herbeigeschafft.“ Vor kurzem hat der Basler Slawist Heinrich Riggenbach, der den Nachlass Rachmanowas in der Kantonsbibliothek Thurgau seit Jahren erforscht, deren literarisch unbearbeitete (vier) Salzburger Tagebücher aus den Kriegsjahren 1942 bis 1945 übersetzt und in einer ausführlich und vorzüglich kommentierten Edition veröffentlicht.'' „Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen den hier übersetzten und den von Alja Rachmanowa selbst veröffentlichten Tagebüchern: Die als Trilogie bekannten Werke sind keine authentischen Tagebücher, wie die meisten