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vor Zerstörung und Untergang bewahrt ... Und allen, allen will ich den sonnigen Glauben an den Sieg vermitteln. Nein, nicht Verzagtheit, sondern die Kraft des Willens und die Kraft zum Sieg — das ist es, was jeder bei mir findet.“ Am 24.1.1945 muss sie registrieren: „Die Bolschewiken kommen immer näher und näher. ... Und jetzt, nur noch einige Hundert Kilometer entfernt, windet sich züngelnd die Schlange, die uns vernichten will.“ Doch noch am 12.2.1945 notiert sie: „Ich glaube an ein Wunder. Es soll ein Wunder geschehen.“ Und am 18.3. 1945: „Jeden Tag bete ich für Deutschland! Herr, komm ihm zu Hilfe! Alle sind gegen Deutschland! Alle greifen es an.“ Nicht eine Distanzierung vom Nationalsozialismus ist da zu finden, selbst Andeutungen oder Spuren von Skepsis oder Reserviertheit sucht man vergebens in ihren Aufzeichnungen.” In der letzten April-Dekade 1945 fliehen die Hoyers aus Salzburg in die Schweiz. Als Motiv wird die panische Angst Rachmanowas vor der näher rückenden sowjetischen Armee im Tagebuch eindeutig benannt. Eine völlig andere Version der Flucht mit unbekannter Herkunft findet sich auf dem Umschlag der Biografie von Ilse Stahr: „Das NS-Regime zwingt das vom Schicksal geprüfte Ehepaar Hoyer zur plötzlichen Ausreise in die Schweiz.“ Riggenbach dazu: „Der behauptete Sachverhalt entbehrt jeder Grundlage. Würde er zutreffen, hätte Alja Rachmanowa mit gutem Recht in aller Öffentlichkeit darüber berichtet ... Wären die Hoyers nicht geflüchtet, hätten sie sich der Frage nach ihrem Verhalten während des Dritten Reichs in Salzburg stellen müssen.“ Das Ehepaar von Hoyer ist nie mehr nach Salzburg zurückgekehrt, auch nachdem die Gefahr des direkten Kontakts mit russischen Soldaten gebannt war. „Bis jetzt gibt es keine schlüssige Erklärung, weshalb von Hoyers nicht zurückgekehrt sind. Es ließen sich viele gute Argumente anführen..., z.B. die zurückgelassene Villa an der Salzach... Das Ihema der Rückkehr ist deshalb von einer gewissen Brisanz, weil Alja Rachmanowa und ihr Mann für den Rest ihres Lebens nie mehr in Salzburg gewesen sind, auch nicht zur Bestattung der sterblichen Überreste ihres Sohnes 1947.“ (Zumindest Arnulf von Hoyer hätte sich da einem Entnazifizierungs-Verfahren stellen müssen.) Wie oben erwähnt, veröffentlichte Alja Rachmanowa 1946/47 das autobiografische zweibändige Werk Einer von Vielen, das als „Lebensbeschreibung und Gedenkbuch in einem“ angekündigt wurde. Wie in ihren früheren „Tagebuch“-Romanen werden die Leser durch das von Hand geschriebene Vorwort der Autorin auf einen dokumentarischen Charakter des Werks eingestimmit. Das Buch ist neben der Biografie des 1945 gefallenen Sohnes die Geschichte der Familie von Hoyer in ihren Salzburger Jahren. Vor allem große Teile von Band 2 decken sich thematisch und zeitlich mit den von Riggenbach übersetzten Originaltagebüchern der Jahre 1942-1945. „Trotz des eindeutigen Zusammenhangs der Tagebuch- und der Werkversion ergeben sich bei naherem Hinsehen betrachtliche Unterschiede. Alja Rachmanowa verschweigt in Einer von Vielen alles, was sie unternommen hat, um im Deutschen Reich Anerkennung zu finden, ihre Kontakte, ihre hartnäckigen Bemühungen um Aufnahme in die RSK, mit denen sie doch noch erfolgreich war. Die im Tagebuch manifeste Sympathie für Deutschland, die Durchhalteparolen und Stoßgebete für den Sieg der Wehrmacht, in einem Fall speziell für den Sieg Hitlers, sind ausgespart.“** Ein besonders eklatantes Beispiel der von Riggenbach analysierten Geschichtsfälschungen und Reinwaschungen: In Einer von Vielen weiß man schon früh, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist. In Gesprächen in der Familie von Hoyer und im Bekanntenkreis äußert sich im Buch eine kritische Einstellung zum Nationalsozialismus, am deutlichsten bei Sohn Alexander. Im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 bekundet er sogar Sympathie für die Attentäter (Bd. 2, S. 277).? Laut Tagebuch vom 11.5.1944 hielt Alexander jedoch seinem Freund Erwin Reiffenstein „einen Vortrag über die Notwendigkeit des Krieges bis zum Ende, bis zum Sieg, darüber, dass Deutschland im Recht ist, über die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Bolschewismus und über die Bedeutung des Nationalsozialismus bei diesem Sieg. (Dessen Mutter) Anni sagte zu mir: ‚Ich liebe meinen Sohn sehr, aber ich stehe auf der Seite deines Sohnes und beneide dich. Er weiß, wozu er lebt, und er hat Boden unter den Füßen, er weiß, wofür Deutschland kämpft‘.“ Im Gedenkbuch wird dieses Gespräch von Rachmanowa seitenverkehrt „erinnert“. Der in seinen Urteilen schr bedächtige Heinrich Riggenbach sieht übrigens gute Gründe für die Ihese, im „Verhältnis zwischen den authentischen Tagebüchern 1942-1945 und Einer von Vielen kann man ohne Bedenken ein Muster sehen, nach dem Alja Rachmanowas autobiografische Werke entstanden sind ... Und erst recht gilt es für die Verwendung der Tagebuchtrilogie als historische Quelle ... Diese Feststellung kann nicht genug betont werden. ““° Zahlreich und gewichtig sind jedenfalls die „Geheimnisse“, die die „naive“ Rachmanowa-Missionarin Ilse Stahr in ihrer Biografie 2012 unterschlagen hat und 2018, einige Jahre nach Veröffentlichung von Riggenbachs Übersetzung der Tagebücher, weiterhin unterschlägt. Deren Nazi-Opfer-Legende war wohl auch die Grundlage für die Anbringung von Gedenktafeln in Salzburg (ErzherzogEugen-Straße 32) und Wien (17., Hildebrandgasse 16) und wurde bislang auch nicht in den „seriösen“ Internet-Nachschlagewerken wikipedia und salzburgwiki korrigiert.*" Und der ORF lässt die Opfer-Story im März 2018 (wohl in harmonischem Einklang mit der bläulich-blauen Wende) der Nation als dokumentarische Wahrheit verkünden. Franz Stadler, Dr.phil., Studium in Salzburg (Deutsche Philologie und Geschichte), lebt als Kulturpublizist in Wien, Herausgeber der Monographie: Robert Neumann. Mit eigener Feder. Aufsätze. Briefe. Nachlassmaterialien. StudienVerlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2013. Anmerkungen 1 Ilse Stahr: Das Geheimnis der Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa. Ein Leben. Amalthea, Wien 2012. 2 Vgl. ebenda, 134-136 3 Vgl. Dietmar Grieser, Vorwort zu: Rachmanowa, Milchfrau in Ottakring, Amalthea, Wien 1997, und: Alle meine Frauen. Eine Porträtgalerie. Residenz, Salzburg 2006. Grieser ist allerdings die „Entdeckung“ gelungen, dass Rachmanowa in Salzburg als „Dozentin für Kinderpsychologie“ tätig war. 4 Stahr, Milchfrau. 115 5 Ine Van Linthout: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, Berlin 2012, 138-141, Anmerkung 223. November 2018 11