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Hermann Haarmann Herbert Marcuses amerikanische Jahre Für Wolfgang Frühwald, den Nestor der deutschen Exilforschung, mit einem herzlichen Gruß nach Augsburg Es gibt, wie mir scheint, zwei Möglichkeiten, unter dem Titel der Ringvorlesung Intellektuelle im Exilan der Universität Oldenburg? dem Philosophen, Soziologen und Politologen Herbert Marcuse sich zu nähern: von seinem Lebensende her als geachteter wissenschaftlicher Lehrer oder ins Jahr 1933 hineinzuspringen, d.h. mit seiner schwierigen Karriere am chemals Frankfurter Institut für Sozialforschung zu starten. Ich bevorzuge, Ihnen vom hinten nach vorne zu erzählen. Damit meine ich nicht Marcuses Tod im Jahr 1979 im Alter von 81 Jahren, der ihn während eines Besuchs bei Jürgen Habermas in Starnberg ereilte, sondern ich möchte Ihnen als Einstieg dessen Wirken in seinen späten Jahren Ende der 1960er näherbringen. Denn in diese Zeit fällt die Phase höchster akademischer Anerkennung, die zwar während des Exils durch seine theoretischen Schriften vorbereitet, sozusagen vorgearbeitet wurde, aber mit Blick auf eine intellektuelle Rückkehr nach Europa nicht wirklich absehbar war. Herbert Marcuse tritt endlich aus dem Schatten der Heroen der Kritischen Theorie: namentlich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Damit teilt er das Schicksal Leo Löwenthals, der die ihm als Wissenschaftler zukommende Würdigung in Nachkriegsdeutschland ebenfalls erst im höheren bzw. hohen Alter erfährt. Der Einschätzung von einer uneingeschränkten Wertschätzung darf man im Fall Marcuses getrost widersprechen, denn seine Auftritte in der Bundesrepublik Deutschland, ganz besonders die im Berlin der sogenannten Studentenrevolte, ziehen doch auch massive Anfeindungen in der Öffentlichkeit besonders durch die regionale wie überregionale Presse (der Springer-Presse) nach sich. Die Politisierung von Teilen der Studentenschaft geht nämlich aus von einem, durch Marcuse initiierten und geforderten Versuch zur Überwindung des Spätkapitalismus.? Man bezichtigt ihn der ideologischen und politischen Rädelsführerschaft. Denn Herbert Marcuse, prominentes Mitglied des 1933 in die Schweiz geflohenen und dann in die USA übergesiedelten Instituts für Sozialforschung, hat das Ohr der rebellischen studentischen Jugend, der sog. Achtundsechziger. Damit nicht genug; In Redebeiträgen zur sich formierenden Protestbewegung ermuntert Marcuse die Jungakademiker zur Aufmüpfigkeit gegen die bundesrepublikanische Saturiertheit infolge des Wirtschaftswunders. Und das kommt nicht von ungefähr. Hier treffen gemeinsame Interessen aufeinander: die des spät in die Pflicht genommenen Philosophen der Befreiungstheorie und die der die Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse einfordernden Studenten. Sie nämlich sind bislang abgespeist worden mit einer Hochschulpolitik, die eher auf Abwehr chedem gesellschaftskritischer, marxistisch grundierter Theorieansätze setzt, denn auf deren Einbindung in die universitären Curricula. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung 20 ZWISCHENWELT 44] mit den Vertretern der sogenannten Kritischen Theorie in Nachkriegsdeutschland ist mühsam genug; es fehlt an Primär- wie Sekundärliteratur. In Berlin blüht deshalb der Schwarzmarkt mit Raubdrucken, mit den illegalen photomechanischen Nachdrucken aus Kreuzberger Hinterhöfen. So wird der Literaturkanon an den Universitäten erweitert gegen den Willen der meisten Professoren. Die wissen auch warum. Der Vertreibung vieler Wissenschaftler ins Exil schließt sich nur in ganz seltenen Fällen eine Rückrufkampagne nach 1945 an. Die Profiteure des massenhaften Exodus unliebsamer, kritischer, marxistischer oder auch ‚nur‘ jüdischer Kollegen geben ihre Stellung nach Ende des Nationalsozialismus nicht so ohne weiteres auf. Es ist die Berliner Zeitschrift Das Argument, die zuerst und konsequent die scheußlichen Kontinuitäten vom Faschismus zur Bundesrepublik beim Personal der Professorenschaft aufdeckt und publik macht. Viele Studenten sind erschrocken, bei wem sie da bislang gehört haben. Das gegenseitige Vertrauen zwischen dem ehemals vertriebenen, aus dem amerikanischen Exil angereisten Professor und den politisierten Studenten hat seine Ursache in Marcuses Neuformulierung der traditionellen Revolutionstheorie. Nach den marxistischen Klassikern ist das Proletariat das Subjekt der Geschichte, weil es die einzig produktive Klasse sei. Sie nämlich besäße nichts als ihre Ware Arbeitskraft und werde durch die Verelendung infolge der kapitalistischen Produktionsweise zur Revolution gleichsam gezwungen. Nun scheint es inzwischen so, daß die Pauperisierung durch die sozialen Absicherungen infolge der Restituierung des Kapitalismus (vgl. dazu das Stichwort von der sozialen Marktwirtschaft) in der jungen Bundesrepublik an Schubkraft für eine Revolutionierung erheblich verloren hat und damit die angestammte Rolle der Arbeiter längst zerbröselt ist. Und wer tritt, so fragt man, an ihre Stelle? In Marcuses Vorstellung sind es die Studenten, die aufgrund ihrer politisch-wissenschaftlichen Bildung einzig den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang noch durchschauen könnten. Welch eine Auszeichnung vor der Geschichte für die im unmittelbaren gesellschaftlichen Produktionsprozeß nutzlosen Studenten! Durch Vortragsreisen in die Metropolen Paris, London und Rom verbreitet Marcuse vor jedem studentischen Publikum verständlicherweise große Euphorie. Nach Jahren der Stagnation, der Restauration insbesondere an den westdeutschen (wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß) und West-Berliner Hochschulen finden die Totengräber der Ordinarienuniversität reichlich Legitimierung für einen radikalen Umbau. Dabei kann man das Engagement Marcuses als politisch-philosophischer Ratgeber nicht hoch genug bewerten. 1965 übernimmt er eine außerordentliche Professur an der Freien Universität Berlin. Er diskutiert im überfüllten Audi Max über Das Ende der Utopie: „Alle materiellen und intellektuellen Kräfte, die für die Realisierung einer freien Gesellschaft eingesetzt werden können, sind da. Dass sie nicht für sie eingesetzt werden, ist ausschließlich der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der