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Befreiung zuzuschreiben.“ Nicht erst die Erfahrungen in den USA und besonders die seiner Promovendin Angela Davis mit Rassendiskriminierung und Übergriffen des Ku-Klux-Klan an der Brandeis University — dort ist er von 1954 bis 1965 Professor für Philosophie und Politikwissenschaften — haben ihn gelehrt, Stellung zu nehmen. Marcuses Hoffnungen liegen, wie gesagt, bei den aufsässigen Studenten, die seiner erfahrungsgesättigten Unterstützung in politischer Theorie und Praxis gewiß sein können. Denn im Gegensatz zu den nach Deutschland zurückgekehrten Leitern des Instituts für Sozialforschung, Horkheimer und Adorno, zögert er nicht, bei seinen zahlreichen Besuchen des alten Kontinents sich eindeutig für die radikalen Ziele der neuen Studentengeneration einzusetzen. Auf dem ersten Vietnam-Kongreß des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds 1966 in Frankfurt am Main hält er das Eröffnungsreferat. In der Hochburg der Studentenrevolte rufen wenig später dagegen die Direktoren Adorno, Ludwig von Friedeburg und Rudolf Gunzert im Februar 1969 die Polizei auf den Campus, nachdem Studenten sich weigern, von ihnen besetzte Räume zu verlassen.? Die Achtundsechziger bäumen sich auf gegen den traditionellverkrusteten Universitätsbetrieb in Westdeutschland und WestBerlin; sie vergewissern sich dabei jener, mit der Vertreibung ins Exil verschütteter, gesellschaftskritischer Theorieentwürfe, die schon in der Endphase der Weimarer Republik der Erstarrung des Historischen Materialismus im Gefolge Lenins und Stalins entgegenwirken wollen. Der Verflachung des wissenschaftlichen Marxismus zu einer pseudowissenschaftlichen Widerspiegelungstheorie auf der Grundlage eines mechanistischen Verhältnisses von Basis und Überbau, zum sogenannten Historischen und Dialektischen Materialismus, Einhalt zu gebieten, sind damals die Vertreter eines emanzipatorisch-materialistischen Ansatzes angetreten. Dazu gehören Philosophen wie Georg Lukäcs mit seiner Studie Geschichte und Klassenkampf und Karl Korsch mit der zum Verhältnis von Marxismus und Philosophie — beides Texte mit einer nicht zu überschätzenden Wirkung auf erkenntnis- wie wissenschaftstheoretisch interessierte Kollegen, die an der Rekonstruktion des Marxismus als kritischer Gesellschaftstheorie arbeiten. Nach Korsch und Lukäcs stößt der 1889 geborene, nur unwesentlich jüngere Marcuse zu der Gruppe von Philosophen, die, an Georg Friedrich Wilhelm Hegels Idealismus geschult, eine Wiedergewinnung des aktivischen, kreativ-schöpferischen Grundmotivs vorantreiben, indem sie auf das durch Arbeit bestimmte Subjekt in der Marxschen Theorie rekurrieren. In diesem Zusammenhang sei auf Marcuses Beitrag unter dem Titel Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus hingewiesen, der kurz vor der Emigration noch 1932 in Berlin erscheinen kann. 1932 ist im übrigen auch das Jahr, in dem Marcuse in Freiburg mit seiner Schrift über Zegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit im Habilitationsverfahren bei Martin Heidegger wegen dessen offener Sympathie für den Nationalsozialismus endgültig scheitert. Marcuse gibt später zu Protokoll, er habe sich keiner Hoffnung mehr hingegeben, daß er sich jetzt, noch „unter dem Naziregime werde habilitieren können“.° Und doch haftet ihm durch sein Studium bei Heidegger und die frühe Hinwendung zu ihm als akademischem Lehrer der haut goüt eines Heidegger-Adepten an. Eine fatale Zuschreibung, die mit Beginn des Exils und der durch Löwenthal initiierte Mitgliedschaft Marcuses im Frankfurter Institut Adornos heftigen Widerspruch hervorruft. Aufs Höchste alarmiert, schreibt dieser an Horkheimer: „Es wird Sie nicht verwundern, wenn es mich traurig macht, dass Sie philosophisch unmittelbar mit einem Mann arbeiten, den ich schließlich für einen durch das Judentum verhinderten Faschisten halte; denn weder konnte er sich über Heidegger Illusionen machen, dem er laut dem Vorwort des Hegelbuches alles zu verdanken hat [...].“” Eine schr böse, boshafte Invektive gegen Marcuse und sicherlich keine gute Voraussetzung für den Eintritt in den Kreis der Mitarbeiter und unter das Direktorenduo und sicherlich keine gute Voraussetzung für einen hoffnungsvollen Beginn des Exils am exilierten Frankfurter Institut! Aber warum sollten, gebe ich zu bedenken, ideologisch oder wissenschaftlich unterschiedliche Ansätze sich mit dem Gang ins rettende Exil plötzlich in Luft auflösen? Sie haben vorerst weiterhin Bestand und bauen sich, wenns denn gut geht, erst im Laufe der gemeinsamen Arbeit ab. Doch noch einmal zurück ins Jahr 1932 und zu Marcuses oben erwähntem und erhellendem Essay. Das bleibende, über die Jahre des Exils bis in die Bundesrepublik der Studentenrevolte hinein anhaltende Verdienst seiner Auseinandersetzung mit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, die Marx 1844 in Paris verfaßt (weshalb sie auch als Pariser Manuskripte bezeichnet werden), ist die bei Marx formulierte Betonung des Subjekts im Subjekt-Objekt-Verhältnis. Diese Interpretation setzt das Moment des Tätigwerdens durch die Subjekte wieder in sein Recht ein. Man könnte die Versuche einer derart forcierten (Rück) Orientierung durch Marcuse deshalb treffend unter dem Titel von der gesellschaftlichen Produktion zusammenfassen. Damit wird eine Lesart vorgestellt, die gerade den „Begriff der menschlichen Praxis“® wieder in den Mittelpunkt rückt, um jeder Form eines Determinismus den Kampf anzusagen. Die Emanzipation der Marxschen Theorie aus den Klauen der mechanistischen Geschichtsauffassung des Marxismus-Leninismus, wie sie von Friedrich Engels in der Dialektik der Natur vorbereitet und durch Lenin in den Konspekten zu Hegel und im Empiriokritizismus endscheidend vorangetrieben wurde, ist das Ziel besagten Essays. Marcuse unterzieht die Pariser Manuskripte einer ausführlichen Analyse, die auf den dort entfalteten Begriff der Arbeit Bezug nimmt und ihn stärkt. Nur in und durch Arbeit nämlich könne der Mensch sich als Gattungswesen erfahren. So sei es „Sinn der Arbeit, die Gegenstände als bearbeitete dem Menschen zu eigen zu geben, sie zur Welt seiner freien Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung zu machen“.? Diese Selbstbezüglichkeit menschlicher Arbeit manifestiere sich „in der Art der Lebenstätigkeit“, wie es bei Marx heißt, und dieser fährt fort: „Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins.“' Der Hegelianer Marcuse orientiert seinen Kommentar ganz eindeutig auf die theoretische Rückholung des klassischen Marx, ohne dabei allerdings dessen Neujustierung des Arbeitsbegriffs in Richtung der später formulierten Kritik der Politischen Ökonomie zu übersehen. Marcuse insistiert darauf, daß Arbeit die Bedingung für „die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens“! sei. Damit wiederbelebt Marcuse einen emphatischen Arbeits- und Produktionsbegriff, der zu einem theoretisch validen Hebel für ein modernes Marxismusverständnis wird, dem nun weiterhin politische Sprengkraft innewohnt. Er richtet sich nämlich gegen Verkrustungen in der leninistisch fundierten Theoriedebatte, indem er einmal mehr den Hegel in Marx hervorkehrt. „Wie kommt Marx dazu, Hegels Begriff der Vergegenständlichung als Selbstgewissen in der Entfremdung, Verwirklichung in der Entäußerung, gerade durch die Kategorie November 2018 21