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über Autorität und Familie spannt den theoretischen Bogen sehr weit: über Luther und Calvin, Kant bis zu Hegel und Marx, um endlich bei der „Wandlung der bürgerlichen Autoritätstheorie zur Lehre vom totalitären Staat (Sorel, Pareto)“ zu landen. Die Mitarbeit an dem ersten gemeinsamen empirischen Großprojekt des Instituts ist ihm sicher, obwohl Horkheimer notiert, daß ihm „[die] Entwürfe, welche Marcuse überbracht hat, [...] ziemlich unbrauchbar scheinen“ .” Horkheimer, Erich Fromm und Marcuse zeichnen verantwortlich. Den fast 1000seitigen Band nennt Rolf Wiggershaus, der Biograph der Frankfurter Schule, denn auch treffend: „Fragment eines kollektiven work in progress“. Löwenthal resümiert: „Der Gedanke war, Autorität zu studieren als das Problem des Kitts der Gesellschaft, also der Gedanke, daß eben dies bei Marx fehlt, eine Theorie der vermittelnden psychischen Zwischenglieder zwischen Basis und Uberbau. [...] Die Theorie von der Familie als Agentur der Gesellschaft ist von Fromm auf der Grundlage der Freudschen Theorie formuliert worden.“™ Marcuses eigenes Forschungsinteresse richtet sich alsbald auf Fragen einer materialistischen Asthetik: Uber den affirmativen Charakter der Kultur von 1937 gilt inzwischen als einer der Kanontexte der modernen Kulturtheorie. Und wieder umkreist unser Philosoph Funktionen des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, der im Gefolge der kapitalistischen Produktionsweise unter dem Wertgesetz allumfassend strukturiert wird. „Die konkrete Arbeit ist auf die abstrakte reduziert, die den Tausch der Arbeitsprodukte als Waren ermöglicht.“” Ich will Sie, meine Zuhörer, hier nicht mit Begrifflichkeiten der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie überstrapazieren, aber soviel ist doch zum Verständnis nötig: In jeden, durch Menschen produzierten Gegenstand ist Arbeit eingegangen; erstens Arbeit als Ergebnis konkreter, den Gebrauchswert schaffender Arbeit und zweitens abstrakte Arbeit, weil unterschiedliche Gebrauchswerte sonst gar nicht gegeneinander getauscht werden könnten. Mit anderen Worten: Abstrakte Arbeit ist gegen jeden Inhalt leere Arbeit. Der Gebrauchswert, Ergebnis konkreter Arbeit, ist Voraussetzung für den Tauschwert, wird aber im Tausch selbst aufgehoben. Diese Realabstraktion ist unter der Regie der Wertform zum ehernen Gesetz kapitalistischer Warenproduktion aufgerückt. Um dem Druck des Werts als Wert zu entgehen, erhebe sich über die Herrschaft der Wertform das Reich der Freiheit, das Feld von Kunst und Kultur, das die Befriedigung des Individuums „durch den Zauber der Schönheit“ jedoch nur suggeriere, d.h. eben nicht wirklich einlösen könne. In einem Rekurs auf die seit der Antike zu beobachtende Sehnsucht der Menschen nach Glück und Harmonie führt Marcuse seine Argumentation bis in die Gegenwart. Die Vermeidung von Unglück und Leid sei der menschlichen Gattung eingepflanzt (dieser gattungsspezifischen Anlage widmet sich Sigmund Freud in seinem wichtigen Essay über das Unbehagen in der Kultur von 1930), und ihr Streben geht nach Erfüllung dieser Anlage. Wenn nun die kapitalistisch organisierte Gesellschaft die Befriedigung solch zentralen Wunschmotivs in der Realität nicht mehr zulasse, dann schaffe sie sozusagen als Ventil einen Ausweg: den Ausweg in die Seele. Mit den Worten Marcuses: „Es kommt wirklich auf die Seele an: auf das unausgesprochenen, unerfüllte Leben des Individuums. In die Kultur der Seele sind - in falscher Form — diejenigen Kräfte und Bedürfnisse eingegangen, welche im alltäglichen Dasein keine Stätte finden konnten.“”” Damit sei zugleich die Sprengkraft, die dem Drang nach radialer Veränderung innewohng, erst einmal stillgestellt. Und doch: Das Reich der Freiheit als Überschreitung des Reichs der Notwendigkeit bleibe, wenn auch nur als Transzendierung kapitalistischer Verhältnisse bedeutsam. Gleichviel: Die Scheinhaftigkeit derartiger Selbstbestimmung im „Genuß des Wahren, Schönen und Guten“”* werde auf den zweiten Blick sogleich entlarvt als besonders hinterhältige Form der Einbindung ins System, so Marcuses Warnung. Die Ablenkung von der gesellschaftlichen Realität sei um so wirkungsvoller, je selbstverständlicher und ungeschützter der Mensch in die Welt jenseits des Wertgesetzes eintauche. „Das Individuum genießt die Schönheit, Güte, den Glanz und den Frieden, die sieghafte Freude; ja, es genießt den Schmerz und das Leid, das Grausame und das Verbrechen. Es erlebt eine Befreiung.“” Der affırmative Charakter der Kultur münde so objektiv in Täuschung, dadurch trete Kultur „in den Dienst des Bestehenden“.?° Diese Diagnose bestätigt Marcuse dann auch in einem weiteren Essay über Philosophie und kritische Theorie. Im Rahmen der Marcuse-Edition in dem kleinen zu Klampen Verlag sind Nachgelassenen Schriften erschienen, wobei für den Themenschwerpunkt unserer Vorlesung Band 5, Feindanalysen. Über die Deutschen, von besonderem Interesse ist, enthält er doch Beiträge aus den Jahren 1936-1942. Die Aufsätze dokumentieren eine wichtige, zusätzliche Facette im Werk Marcuses aus den Jahren des amerikanischen Exils. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem faschistischen Deutschland eröffnet dem Leser eine Innenansicht aus dem Dritten Reich, die Amerika aufklären soll über das, was Hitler und Hitlerdeutschland strukturell zusammenhält. Es sind mentalitätsgeschichtlich anspruchsvolle Analysen, denn der „Nationalsozialismus hat die Denk- und Verhaltensmuster des deutschen Volkes dermaßen verändert, daß sich die traditionellen Methoden der Gegenpropaganda und Umerziehung als unzulänglich erweisen. Die Deutschen orientieren sich gegenwärtig an gänzlich anderen Werten und Maßstäben, und sie sprechen eine Sprache, die sich von den Ausdruckformen der westlichen Zivilisation wie auch von denen der einstigen deutschen Kultur grundlegend unterscheidet.“.?' Diese Ausgangsdiagnose ist interessant genug. Marcuse durchdekliniert in der Folge die „Merkmale der neuen deutschen Mentalität“ und hat Attribute wie „uneingeschränkte Politisierung“, „uneingeschränkte Desillusionierung“, „Zynische Sachlichkeit“, „Neuheidentum“ oder „Verschiebung tradierter Tabus“ parat, um die radikalen Einschnitte in die politisch-soziale Grundbefindlichkeiten in NaziDeutschland zu beschreiben. Nehmen wir zur Verdeutlichung nur den Aspekt der Sprache heraus: „Die Mentalität hat sich so grundlegend geändert, daß die deutsche Bevölkerung für traditionelle - argumentativ und darstellend verfahrende — Sprache und Logik kaum noch zugänglich ist.“” Von besonderem Gewicht dürfte die Charakterisierung der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sein, denn in ihr werden genau diejenigen benannt, mit denen es die amerikanischen Soldaten zu tun bekommen werden nach der inzwischen absehbaren militärischen Niederwerfung des Nationalsozialismus: eine Jugend, die von Faschismus indoktriniert und instrumentalisiert wurde. Historisch betrachtet, spaltete sich die deutsche, ehedem durchaus fortschrittliche Jugendbewegung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts”? in zwei gegensätzliche Stränge auf - in die kommunistische und in die nationalsozialistische. Beide Richtungen markieren einen fatalen Weg in eine jeweils als autoritativ ausgerichtete, das heißt strukturell kaum zu unterscheidende Sackgasse. Es ist im übrigen Wilhelm Reich, der Psychoanalytiker aus der Wiener November 2018 23