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Freud-Schule, der schon in den 1930er Jahren sehr aktuell auf Deformierungen der Jugendlichen zu potentiellen Opfern und Mitläufern autoritärer Ideologien durch Unterdrückung sexueller Bedürfnisse abhebt. Ich erlaube mir diesen Hinweis, weil derart einschneidende, restriktive Zurichtungen der Sexualität selbst in der damaligen sogenannten proletarischen Jugendliteratur ihren Niederschlag finden.‘ Die Konditionierung der Jugend unterm Nationalsozialismus wird dann gerade auch im Exil ein politisch brisantes Thema der politischen Diskussion; zu erwähnen ist hier beispielsweise Erika Manns amerikanischer Bestseller School for Barbarians. Education under the Nazis von 1938. Es mag Sie, mein verehrtes Publikum, vielleicht nicht überraschen, daß ich hier, im Zusammenhang mit Verdrängung und Sublimierung des Sexualtriebs, einen Impuls für Marcuse vermute, sich über die Philosophie der Hedonik wissenschaftlich auszulassen. Sein Aufsatz Zur Kritik des Hedonismus” von 1938 knüpft darüber hinaus unmittelbar an den über die Affirmation an, der ja das Reich der Freiheit als Verwirklichung des Individuums nur im Jenseits des Kapitalismus als möglich ansicht. Dies, Sie erinnern sich, ein fataler Trugschluß! Denn gerade in der Entlastung von Politik stabilisiert das System sich selbst, da jeder Impuls auf reale Veränderung zur Einlösung menschlicher Wünsche nach allgemeinem Glück rangiert wird auf das Abstellgleis von Kunst und Kultur. Mit Marcuses Worten: Für „das Glück bleibt nur noch die Sphäre der Konsumtion übrig“, denn „Arbeit und Glück fallen wesentlich auseinander“. Der philosophische Übervater der Studentenbewegung vertröstet allerdings darauf, daß, wenn Glückseligkeit auch immer schon als Ablenkung von Politik fungiere, das Versprechen des Hedonismus auf ein besseres, d.i. genußvolles Leben im falschen, nämlich kapitalistischen, trotzdem nichts von seiner Wirkkraft verliere. Wegen seiner Verknüpfung von kritischer Analyse des repressiven Kapitalismus mit dem beständigen Einklagen von Sinnlichkeit und Genuß wird Marcuses Text über den Hedonismus zum Vademecum der Achtundsechziger bei der Beförderung ihrer (sexuellen) Revolution. (Nach dem Motto: Wenn schon keine soziale Revolution, denn wenigstens die sexuelle!) Der ,, Dualismus von Arbeit und Freizeit“ durchzieht in Marcuses Augen auch und ganz besonders den nationalsozialistischen Staat. Unter dem Stichwort ,, Kraft durch Freude“ habe dieser alle Angebote und Aktivitäten der „KdF-Organisationen“ subsumiert, allerdings nur deshalb, um „die Leistungsfähigkeit des Individuums durch die Ausweitung und attraktivere Gestaltung seiner Freiheit“ zu intensivieren. Mit dieser Maßgabe drücke das faschistische Regime seine Bevölkerung weiterhin unters Joch permanenter Ausbeutung. Solcherart Ausbeutung komme dem nationalistischen Staat zugute in seiner „dreifache[n] Souveränität von Industrie, Partei und Wehrmacht, die das vormalige staatliche Gewaltmonopol unter sich aufgeteilt haben“. Ab dem Jahr 1943 heuert Marcuse, wie auch andere deutsche Exilanten und Freunde schon zuvor, beim Office of Strategic Service (OSS) an: Die 2013 erschienene Dokumentation /m Kampf gegen Nazideutschland versammelt erstmals Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943 — 1949. In gewisser Weise leisten die in den USA Untergekommenen damit ihren Dank ab für die Aufnahme in der Fremde, ganz abgeschen davon, daß sie weiterhin ihren Lebensunterhalt sichern können. Die Beiträge von Marcuse kann man getrost als Brotarbeit bezeichnen; sie entbehren in der Regel jeder philosophischen Fundierung, sie handeln eher uninspiriert-nüchtern 24 ZWISCHENWELT Problemfelder ab, die allemal von politischer Bedeutung für die amerikanische Administration gewesen sein dürften. Dafür stehen meiner Ansicht nach besonders Aufsätze wie Veränderungen in der Reichsregierung, Deutschlands soziale Schichtung oder Einschätzungen zur politischen Lage von KPD und SPD, die mit Beginn der nationalsozialistischer Diktatur zerschlagen und ins Exil getrieben wurden und dadurch entscheidend geschwächt sind für die Übernahme politischer Verantwortung nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Marcuses Ausblicke auf ein neues Deutschland durch Entnazifizierung und Wiederbelebung alter Parteien und zur Gründung neuer Parteien in Deutschland sind cher resignativ, aber aufrichtig. Zur abschließenden Bewertung dieser Forschungen im Auftrage amerikanischer Stellen möchte ich Leo Löwenthal stellvertretend für andere Mitstreiter, zitieren: „Die Regierungstätigkeit war weder für Marcuse noch für mich kompromittierend. Aus praktischen Gründen war ich gezwungen, eine mir angemessene Anstellung zu finden.“ Natürlich sind sich beide, Löwenthal wie Marcuse, über ihre letztlich mißliche Lage im Klaren. Gegenüber Werner Krauss äußert sich Marcuse in einen Brief vom 28. August 1947 so: „Ich moechte meine gegenwaertige Stellung so bald wie moeglich aufgeben. Das setzt aber voraus, dass ich einen Rufan eine einigermassen gute Universitaet bekomme.“ Kraus reagiert umgehend und bietet ihm (wie auch Ernst Bloch) den Lehrstuhl für Philosophie der Universität Leipzig an mit ausdrücklicher Unterstützung des Dekanats. Ganz offensichtlich aber meint Marcuse eine amerikanische Universität, weshalb er Krauss gegenüber sogleich absagt und statt dessen Bloch als ideale Besetzung vorschlägt. Was mit dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition, der Niederlage des faschistischen Deutschlands für die Emigranten als Erlösung, als Ende eines Alptraums erfahren wird, weicht kurz darauf einem Schock. Der Schock hat einen Namen: Auschwitz! Die Unvorstellbarkeit der nationalsozialistischen Greuel, die systematische Vernichtung der deutschen und europäischen Juden relativiert den Seufzer Wir sind noch einmal davongekommen“' und verkehrt ihn in sein Gegenteil: Niemand kann im Wissen um die Verbrechen des deutschen Faschismus für sich reklamieren, davongekommen zu sein. Viele empfinden Schuld, überlebt zu haben. Nicht zufällig setzt Marcuse einer seiner ersten Veröffentlichungen in Deutschland ein Vorwort voran, in dem sich der Satz findet: „Daß all dies vor Auschwitz geschrieben wurde, trennt es so tief von der Gegenwart. Was an ihm richtig war, ist seither vielleicht nicht falsch geworden, aber vergangener.“ Die Rückholung der intellektuellen Elite aus dem Exil wird in Westdeutschland nicht wirklich engagiert betrieben. Die, die die durch Vertreibung oder Ermordung während der Zeit des Nationalsozialismus frei gewordenen Positionen besetzt haben, geben diese — ich sagte es schon - nicht freiwillig auf. Die Bereitschaft der zuständigen Behörden, in den Reihen der Naziprofiteure aufzuräumen, hält sich in Grenzen. Plötzlich ist jeder Widerständler und hatte „seinen Juden im Keller“. Noch vor wenigen Jahren wurde übrigens eine Aktion in Berlin gestartet: Aufkleinen Plakaten an Laternenmasten konnte man lesen: „Ich war's nicht, Hitler war es!“ Dieser Satz muß verstanden werden als bissiger Kommentar zur öffentlich sanktionierten Verdrängung deutscher Verantwortlichkeit vor der Geschichte. Herbert Marcuses Statement, er sei letztlich in Amerika geblieben, weil er sich „ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen konnte“, könnte also nachvollziehbarer nicht sein. Lassen Sie mich ein Beispiel aus einer ganz anderen akademischen