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Keineswegs nur im deutschsprachigen Raum, dort aber ganz besonders, existiert eine lange Tradition der Entgegensetzung von vermeintlicher jüdischer „Nicht-Arbeit“ und den nationalen Arbeitstugenden. Der nationalliberale Politiker und Historiker Heinrich von Treitschke, auf den die Parole „Die Juden sind unser Unglück“ zurückgeht, erklärte: „das Semitenthum“ drohe „die gute alte gemütliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes [...] zu ersticken.“ Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker von der offen antisemitischen Partei der Christlich-Sozialen postulierte einen „christlich-deutschen Arbeitsgeist“ und erklärte 1878: „Das moderne Judentum muss an der produktiven Arbeit teilnehmen.“ Die Juden hätten „an der Arbeit keine Freude, für die deutsche Arbeitsehre keine Sympathie.“ Im völkischen Staat des Nationalsozialismus bekam die Arbeit zentrale Bedeutung. Was die staatszentrierte und kollektivistische Arbeiterbewegung bereits vorgezeichnet hatte, wurde bei den Nazis zur Vollendung gebracht: Arbeit als Dienst an der Gemeinschaft und als Opfer für das Gemeinwohl. Das hatte Folgen für die Entwicklung in den Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus, die sich nicht nur in diesem Punkt von den liberal-kapitalistischen Gesellschaften angelsächsischer Prägung unterscheiden. In aller Kürze hat Gerhard Scheit dies in dem Band Postnazismus revisited. Das Nachleben des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert auf den Punkt gebracht: „Wenn in Amerika von pursuit of happiness gesprochen wird, heißt es in Deutschland immer nur: Arbeit macht frei.“ Nachdem die großdeutschen Proletarier zu „Soldaten der Arbeit“ mutiert waren und sich weitestgehend in die Volksgemeinschaft — und das heißt auch: das Vernichtungswerk - integriert hatten, machte man sich nach 1945 daran, die Resultate des Nationalsozialismus in der demokratisierten Volksgemeinschaft sozialpartnerschaftlich zu verwalten. Die Linke hingegen polemisierte gegen die schmarotzenden Müßiggänger und wünschte sich „Arbeiter- und Bauernstaaten“, anstatt die Menschen vom elenden Dasein als Arbeiter zu befreien. Der Arbeitsfanatismus von links bis rechts sieht die ehrliche Arbeit um ihren gerechten Lohn betrogen, sei es durch die „Zinsknechtschaft“, wie es bei den Nationalsozialisten explizit hieß und bei vielen Islamisten heute heißt, oder die keineswegs nur von der Antiglobalisierungsbewegung so inbrünstig gehassten „Spekulanten“. Die Agitation geht gegen „die da oben“, gegen die „Bonzen und Parasiten“, die lieber konspirieren als durch anständige Arbeit etwas zum Volkswohlstand beizutragen. Der Hass auf das unterstellte oder tatsächliche arbeitslose Einkommen ist nicht nur eine falsche, sondern angesichts seiner Ressentimenthaftigkeit und seiner Verherrlichung des Staates eine äußerst gefährliche Antwort auf gesellschaftliche Krisenerscheinungen und ungleiche Reichtumsverteilung. Der in jedem arbeitsfetischistischen 1. Mai-Aufruf artikulierte Sozialneid ist das exakte Gegenteil von dringend notwendiger Sozialkritik. Ein bekanntes Beispiel für ebenso arbeitsfetischistische wie ressentimenthafte Vorstellungen ist die Verfilmung von George Orwells Animal Farm, mit der Pädagogen jeden Alters bis heute versuchen, den ihnen Ausgelieferten kritisches Bewusstsein einzutrichtern. Der berühmte Zeichentrickfilm von John Halas und Joy Batchelor ignoriert in seiner Stalinismuskritik nicht nur den Stellenwert des Antisemitismus in den realsozialistischen Gesellschaften, der eines der Resultate von Produktivitätsideal, Arbeitsethos und einer „proletarischen Moral“ war, die sich stets gegen sie torpedierende „zersetzende Kräfte“ zur Wehr setzen musste. Animal Farm bleibt über weite Strecken selbst einer 28 — ZWISCHENWELT Denkart verhaftet, die nie und nimmer etwas zu Emanzipation und Aufklärung wird beitragen können. Es wird nicht einfach Herrschaft kritisiert, sondern die Herrschaft der dekadenten, in Luxus schwelgenden, trinkenden Führungselite wird im Namen des ehrlich arbeitenden, sich in Abstinenz übenden Volkes attackiert. Unterschwellig richtet sich die Kritik gegen den Luxus selbst, der doch das ganze Ziel einer ernsthaften emanzipativen Bestrebung sein müsste. Man stößt sich, ähnlich wie in den heutigen Bewegungen der Sozialneider, nicht daran, dass nicht alle gleichermaßen am Luxus partizipieren können, sondern daran, dass es nicht allen gleich schlecht geht. Bei solch einer Denkfigur, welche die stalinistische Vergötterung der schaffenden Arbeit in die Kritik am Stalinismus übernimmt, ist es kein Wunder, dass antisemitische Stereotype in der Verfilmung von Animal Farm nicht fehlen. Man denke nur an die Figur des Bempel, ein auf das Geld fixierter, sich nicht um die Allgemeinheit scherender Händler, der mit schlafwandlerischer Sicherheit mit einer Physiognomie ausgestattet wurde, wie sie Antisemiten für Juden reserviert haben. Arbeits- und Staatsfetischismus Ob linke Globalisierungsgegner, christliche Sozialtheoretiker oder faschistische Produktivitätsfanatiker: Helfershelfer bei der Rettung der Arbeit soll der Staat sein, der den zügellosen, nicht dingfest zu machenden Marktkräften den Betrug an der ehrlichen Arbeit verunmöglichen soll: Kein Arbeitsfetischismus ohne Staatsfetischismus. Doch wird der Staat gegen den Markt in Anschlag gebracht, werden Folgen kritisiert und zugleich deren Ursache legitimiert. Es wird nicht das Kapitalverhältnis und der Staat als dessen kollektiver Organisator für die systematische Schädigung des Interesses der abhängig Beschäftigten verantwortlich gemacht, sondern der Kapitalismus wird lediglich mit immer neuen sprachlichen Zusätzen versehen: vom „Turbokapitalismus“, über den „Kasino- und Mafiakapitalismus“ bis zum „Raubtier-“ oder „Börsendschungel-Kapitalismus“. Dagegen wird dann die „Würde der Arbeit“ mobilisiert und der Verlust der „Gestaltungsmöglichkeiten der Politik“ beklagt. Der Skandal der heutigen Gesellschaftsform besteht aber nicht darin, dass die Politik in einigen Bereichen weniger zu melden hat als früher (während sie im übrigen in anderen Bereichen wie zum Beispiel der Migrationsverwaltung, der an den europäischen Außengrenzen zahlreiche Menschen zum Opfer fallen, deutlich aktiver agiert als noch vor 20 Jahren). Das Niederschmetternde einer auf Gedeih und Verderb an die Verwertung von Kapital geketteten Gesellschaft besteht darin, dass in ihr das millionenfache Verhungern von Menschen, die zwar Lebensmittel „nachfragen“, aber eben über keine zahlungskräftige Nachfrage verfügen, achselzuckend in Kauf genommen wird. Das Obszöne dieser Gesellschaft besteht darin, dass Luxus und Genuss den meisten Menschen auch in den materiell vergleichsweise abgesicherten Weltgegenden vorenthalten werden, obwohl das angesichts der entwickelten menschlichen und gesellschaftlichen Fähigkeiten nicht notwendig wäre. Nicht etwa, weil das irgendwelche finsteren Mächte so beschlossen hätten, sondern weil es schlicht der Logik des Systems der Kapitalakkumulation entspricht, gegen das es heute kaum wahrnehmbaren Einwände mehr gibt - es sei denn von Leuten, welche die bestehende Gesellschaft durch noch Schlimmeres ersetzen wollen.