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Teils der Menschen die Aufspaltung der Gattung keineswegs nur in Klassen, sondern überhaupt in sich zwangsläufig in erbitterter Konkurrenz feindlich gegenübertretende Monaden produziert und reproduziert, so ist auch der Klassenkampf keine heroische und systemtransformierende Angelegenheit mehr. Die schlechten gesellschaftlichen Arbeitsverhältnisse können nicht durch die konsequente Wahrnehmung von Interessen aufgehoben werden, da sie diese Interessen selbst konstituieren. Anders gesagt: Lohnarbeiter als Lohnarbeiter wollen mehr Lohn, nicht die allgemeine Emanzipation. Der Wille und das Interesse, die sich hier artikulieren, sind nicht jene von voraussetzungslosen Subjekten, sondern von gesellschaftlichen Charaktermasken, von Personifikationen gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Verwirklichung von Emanzipation, die Herstellung eines versöhnten Zustandes kann nicht die Verwirklichung eines Klasseninteresses vom Standpunkt der Arbeit aus sein, sondern nur die Überwindung von Klassen und ihrer Interessen. Nicht baut die Arbeiterklasse den Sozialismus auf, sondern der Aufbau des Sozialismus, soll er nicht lediglich eine alternative Form der Schinderei sein, implizierte den Abbau der Arbeiterklasse. Für die 30-Stunden-Woche kann man als Klasse streiten, für allgemeine Emanzipation und gesellschaftliche Versöhnung im Sinne der Kritischen Theorie nicht. Subjekt der Emanzipation von der Lohnarbeit könnte heute nur eine Assoziation der leidenden Menschen mit dem Vorsatz sein, jene Verhältnisse, die das Leid systematisch verursachen, in einem Akt praktischer gesellschaftlicher Selbstreflexion in progressiver Absicht aufzuheben. Weiß dieses Subjekt aber nichts von der drohenden Aufhebung des schlechten Bestehenden hin zum Schlimmsten, kann es kein emanzipatives sein. Die klassenlose Klassengesellschaft, die postnazistische, in Deutschland und Österreich erst durch Faschismus und Nationalsozialismus ermöglichte „Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose“, von der Adorno in seinen Reflexionen zur Klassentheorie spricht, berührt den Kern jeder Revolutionstheorie. Da der für den Traditionsmarxismus konstitutive Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit kein außerhalb jeglicher Geschichtlichkeit existierendes Verhältnis ist, kann er auch nicht unberührt bleiben von der negativen Aufhebung der Klassengesellschaft in der deutsch-österreichischen Volksgemeinschaft. Das proletarische Interesse hat sich im Nationalsozialismus mit dem Staat verbündet und sich ans Vernichtungswerk gemacht. Nachdem die Proletarier in den hiesigen Gefilden in ihrer niederschmetternd überwiegenden Mehrheit zu Prolet-Ariern mutiert waren und sich in den volksgemeinschaftlichen Massenmord integriert hatten, müsste jede emphatisch auf den Begriff der Arbeiterklasse rekurrierende Emanzipationsvorstellung vor sich selbst erschrecken. Schlechte Aufhebung der Arbeit War vor der faschistischen Versöhnung von Kapital und Arbeit der proletarische Arbeitskult noch auf die Überhöhung und Verklärung der Schufterei als Mittel zum Lebensunterhalt gerichtet, gerät im Nationalsozialismus und im Postnazismus das Sinnstiftende und Disziplinierende der Arbeit zum eigentlichen Grund des Arbeitsfetischismus. Daran ändert dann auch die vermeintlich „neoliberale“ Flexibilisierung der Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten nichts mehr. Ganz im Gegenteil: Sie herrscht die zuvor von Staats wegen und gemeinschaftlich organisierte Verpflichtung zur Produktivität nun jedem Individuum als „Eigenverantwortung“ 30 ZWISCHENWELT auf. Durch die neuen Formen von „Mitbestimmung“ und die vielgelobten „Hachen Hierarchien“ in der Arbeitswelt wird der Produktivitätswahn im schlechten Sinne demokratisiert und individualisiert, keineswegs aber in Frage gestellt. Diese Flexibilisierung und schlechte Individualisierung macht sich selbst noch in der Kritik an der Arbeitssucht bemerkbar. Etwa wenn sich Menschen ungeachtet der gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen jenseits der Erwerbsarbeit einfach als Glückliche Arbeitslose titulieren, wie vor einigen Jahren eine von Berlin ausgehende Initiative, die über die Landesgrenzen hinweg große Beachtung im Feuilleton gefunden hat. So sympathisch ihre Kritik an den vorherrschenden Vorstellungen von Produktivität und Arbeit sein mag, so problematisch ist beispielsweise ihr Lob afrikanischer Großfamilien als alternative Form der Reproduktion und ihre Begeisterung für die vermeintliche „soziale Überlegenheit des armen Südens“, von der sie in ihrem Manifest schreiben. Der schlechten Individualisierung begegnen sie mit einem falschen und rückwärtsgewandten Kollektivismus, obwohl sie selbst betonen, dass es nicht darum gehen kann, „uralte soziale Gebräuche nachzuahmen“. Nicht ein vormodernes Stammesbewusstsein, in dem Arbeits- und Freizeit noch gar nicht voneinander geschieden sind, kann das Ziel sein. Es geht vielmehr um einen gesellschaftlich selbstreflexiven Müßiggang, der nicht hinter zentrale Errungenschaften der Moderne wie beispielsweise der Herauslösung aus repressiven Familienstrukturen und die Möglichkeit zu freiwilliger Vereinzelung zurückfällt, sondern über sie hinausweist. Doch solange das Glück des Menschen an den Nachweis seiner Verwertbarkeit gebunden bleibt, kann man kein „glücklicher Arbeitsloser“ werden, und die wie auch immer kritikwürdige bürgerliche, urbanistische Gesellschaft ist allemal besser als die „Blutsurenge“ traditioneller Gemeinschaften und der „Idiotismus des Landlebens“, den Marx und Friedrich Engels in ihrem Manifest völlig zu Recht ins Visier nahmen. Eine Kritik der Arbeit und des Kapitals muss heute wissen, dass es weitaus Schlimmeres gibt als die bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftung und das ihr inhärente Arbeitsregiment: ihre negative Aufhebung. Solange eine Abschaffung von Arbeit und Verwertung, solange also Freiheit im Sinne der Realisierung individueller und gesellschaftlicher Emanzipation keine Aussicht auf Erfolg hat, gilt es, zumindest die Möglichkeiten kritischer Reflexion über die fetischistisch konstituierte Arbeitsgesellschaft aufrechtzuerhalten, zugleich das Schlimmste zu verhindern und sich gegen die Aufhebung der schlechten bestehenden Arbeitsgesellschaft in die antisemitische Barbarei zu stellen. Daraus resultiert eine Parteilichkeit gegen jede Art falscher Unmittelbarkeit, wie sie leider auch in vielen Ausprägungen der Arbeitskritik aufscheint (man denke nur an den optimistischen Vitalismus beispielsweise des Situationisten Raul Vanheigem, der einem schon in den Titeln seiner Bücher anspringt: An die Lebenden, Buch der Lüste etc.). Neben dieser Parteinahme fiir die Vermittlung und den daraus resultierenden Einspruch gegen jeden Versuch ihrer barbarischen Aufhebung kann es Gesellschaftskritik nicht um eine Klassenbewusstseinstheorie und erst recht nicht um eine Kritik vom „Standpunkt der Arbeit“ aus gehen, sondern einzig um den Versuch, inmitten der falschen Gesellschaft individuelle und gesellschaftliche Selbstreflexion zu ermöglichen, um die Reste jener vom Zwang zu Kapitalproduktivität und Staatsloyalität systematisch beschädigten Mündigkeit zu retten, die eine Grundbedingung der Verwirklichung von Freiheit ist.