OCR
unterscheidet. [...] man möchte [...] gar wohl gestehen, daß angeborene Kraft und Eigenheit mehr als alles Übrige des Menschen Schicksal bestimme. [...] Dieses feste, zähe, dieses nur aus sich selbst zu entwickelnde Wesen kommt freilich in mancherlei Beziehungen“.”* Dies kam, wie erst kürzlich Werner Michler zeigen konnte, Zweigs Denken schr entgegen, weil es ihm die Möglichkeit bot, „die Mitte zwischen ‚Individualität‘ und biographischem Faktum“ zu beziehen, „das ihn in die Mitte von Biographie und synthetischer Wesensschau bringt, von Positivismus und Geistwissenschaft.“ Ich meine allerdings: Zweigs Waage neigte sich eindeutig der „Wesensschau“ zu — nur wenige, wenn auch nach herkömmlicher Meinung jeweils prägende lebensgeschichtliche Fakten werden nämlich von Zweig in seinen Porträts genannt. Meist geht es ihm um die Skizze einer Art inneren Antlitzes, um das Wirken des „Dämons“, dem der Biograph nachspürt. Zweigs Orientierung an Goethes „Urworte. Orphisch“ (1817/1820) ist ein Kontra gegen den zunehmend sich biologistisch ausrichtenden Diskurs seiner Zeit über Gesundheit und Krankheit bzw. Wahnsinn des gefährdeten Kunst-Genies (z.B. Cesare Lombroso 1836 — 1909, Max Nordau 1849 — 1923, Gottfried Benn 1886 — 1956, Wilhelm Lange-Eichbaum, Edgar Zilsel 1891 — 1944)?° und ist Ausläufer des noch immer virulenten genie-ästhetischen Diskurs seit dem 18. Jahrhundert. Zweigs biographierende Arbeiten sind einem Paradigma verpflichtet, das er selbst so formuliert hat: „Neue Wissenschaften — die Typenlehre, die Physiognomik [insbesondere die Phrenologie KM], die Erbmassenlehre, die Psychoanalyse, die Individualpsychologie — bemühen sich, gerade das Nichtgattungsmäßige jedes Menschen, die einmalige Einheit jeder Persönlichkeit wieder in den Vordergrund der Betrachtung zu drängen [...].“ Hauptsächlich interessieren den Künstler Zweig also die geheime Kraft und die Erscheinungsweisen des Schöpferischen, „der „Götterfunke des Schöpferischen“*, also „Formen des Geistes“, „Produktivität höchster Art“ (Goethe zu Eckermann), das in diesem Sinne „Heroische“”, die „höchsten Wertformen des Geistes“, in die er mit seinen oft ausufernden metaphorischen und vergleichenden Mitteln Licht zu bringen hofft - nach dem Motto, mit dem Zweig 1930 seine „Einleitung“ zur Trilogie „Die Heilung durch den Geist“ schließt: „Nur durch das Extreme‘ wunderbares Wort Paul Valerys —,hat die Welt ihren Wert, nur durch das Durchschnittliche ihren Bestand. ‘,*' Man hat Zweigs Kampf mit dem Dämon nicht nur in der im Umfeld des Stefan-George-Keises bekannten und von prominenten Vertretern (z.B. Rudolf Unger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Hermann August Korff, Fritz Strich) gepflegten ideen- und geistesgeschichtlichen Bewegung verortet, sondern in Zweigs Buch einen prinzipiellen Beitrag zur Debatte um das Tragische in der Moderne gesehen. Bernhard Greiner schreibt: „[...] Zweig supported, with his tragedy-book for the educated bourgeoisie, the status of tragedy as a ‚pattern-card‘ for modernity’s interpretation. He did not discuss the fundamental doubts raised about tragedy, from Hegel and Kierkegaard to [Franz] Rosenzweig and Benjamin. [...] Zweig added to his contemporaries‘ thinking on education the idea of the tragic as a mediating figure and therewith the conception of tragic self-assertion of the subject. However, by this time the idea had already been fundamentally dismissed.“ Drei Jahre später —- 1928 - ist schließlich der „Typus des selbstbeschäftigten subjektivistischen Künstlers und seine entscheidende 34 ZWISCHENWELT Kunstform, die Autobiographie“* mit den von Zweig zu exemplarischen Gestalten ernannten Giacomo Casanova, Stendhal (Henri Beyle) und Leo Tolstoi an der Reihe. Nun geht er, noch klarer als bisher, einem ganz persönlichen und bisher weitgehend versteckten Anliegen nach: dem Biographie-Modell als verhüllter autobiographischer Selbsterkundung. Nie hat Zweig - erstaunlicherweise — eine als Autobiographie deklarierte Schrift verfasst, denn „Die Welt von Gestern“ (1942) enthält eben „Erinnerungen eines Europäers“, gewissermaßen konstruierte Außenansichten des Weltgeschehens eines reichen, gebildeten, assimilierten Wiener Bürgersohnes und eben keine Autobiographie. Zweigs selbsterkundende Umwege waren — neben einigen seiner Novellen und Erzählungen — seine Biographien. So verwundert es nicht, dass er zu den „Drei Dichtern ihres Lebens“ (1928) ein brillantes Vorwort autobiographischer Reflexion verfasst hat — man darf ruhig sagen: avant la lettre moderner Theorie der „Selberlebensbeschreibung““. Alle relevanten Aspekte des Genres, auch in seinen historischen Ausprägungen und Selbstverständnissen — „geistwesentliche Werke“, die „ins tiefste Labyrinth der Seelenwissenschaft hinabsteigen““° — werden thematisiert, so als ob er einer der erfahrensten Auto-Bio-Graphen wäre, ähnlich wie später Wolfgang Hildesheimer“ oder Jean Am£ry.‘’ Es ist bei Zweig von biologisch bestimmter Defizienz des Gedächtnisses“, vom „Zwitterlicht zweifelhafter Irrlichtserinnerungen“, von „überwachsenel[r] Vergangenheit“, vom „glitschigen Gang zwischen Selbsttäuschung und willkürlichen Vergeßlichkeiten“ die Rede, vom Wissen um den steinigen Weg „von der Selbstschau zur Selbstdarstellung“, es ist die Rede von den „künstlichen Ergänzungen und Verkleisterungen“, die oft/meist der „Scham“ geschuldet sind, und nicht zuletzt — ganz freudianisch — von der sich hochschaukelnden Dialektik zwischen der wahrheitsfanatischen „Wissenschaft des Herzens“ und der „Selbstbelügekunst“, also des Verschweigens im Bekennen und Beichten. Dieses Vorwort Zweigs ist zugleich ein Dokument, ja eine versteckte Reflexion über sein eigenes ‚Versagen‘ als Romancier im Sinne Balzacs oder Dostojewskis, denn als Dichter der Moderne, einer Spatzeit, habe er unweigerlich Anteil an dem Schwund „mythischer Bildnerkraft der Menschheit“, wie er sagt: „Das internum aeternum, die innere Unendlichkeit, das seelische Weltall, eröffnet der Kunst noch unerschöpfliche Sphären: die Entdeckung ihrer Seele, die Selbsterkennung, wird die künftig immer kühner gelöste und doch unlösbare Aufgabe unserer wissend gewordenen Menschheit sein.“ Dass die „Drei Dichter ihres Lebens“ am Ende seiner „Baumeister“ stehen, erschließt sich auch aus diesem Zusammenhang. Bei der Ausarbeitung seiner „Typologie des Geistes“ ist es, als ob dem Dichter und Geschichtsforscher Zweig die bekannte Vorlesung Wilhelm von Humboldts „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers“ (1821) als Orientierung gedient hätte: Zweig bleibt natürlich nicht an historischen Daten und Fakten hängen, sondern schaut in die Tiefe, stellt unentwegt subkutane Vergleiche an, betreibt poetische historiographische Komparatistik und erkennt strukturelle Gemeinsamkeiten, er abstrahiert und fasst zusammen, ohne aber „ein starres System in die Welt des Genius einkonstruieren zu wollen.“ °° Bei Humboldt hatte es geheißen: „Mit der nackten Absonderung des wirklich Geschehenen ist aber noch kaum das Gerippe der Begebenheit gewonnen. Was man durch sie erhält, ist die nochwendige Grundlage der Geschichte, der Stoff zu derselben, aber nicht die Geschichte selbst. Dabei stehen bleiben, hieße die eigentliche, innere, in dem ursachlichen