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Zusammenhang gegründete Wahrheit einer äußeren, buchstäblichen, scheinbaren aufopfern [...]. Die Wahrheit alles Geschehenen beruht auf dem Hinzukommen jenes [...] unsichtbaren TTheils jeder Thatsache, und diesen muss daher der Geschichtsschreiber hinzufügen. Von dieser Seite betrachtet, ist er selbstthätig, und sogar schöpferisch, zwar nicht indem er hervorbringt, was nicht vorhanden ist, aber indem er aus eigener Kraft bildet, was er, wie es wirklich ist, nicht mit blosser Empfänglichkeit wahrnehmen konnte. Auf verschiedene Weise, aber ebensowohl, als der Dichter, muss er das zerstreut Gesammelte in sich zu einem Ganzen verarbeiten. [...] Speculation, Erfahrung und Dichtung sind [...] nicht abgesonderte, einander entgegengesetzte und beschränkende Thätigkeiten des Geistes, sondern verschiedne Strahlseiten derselben. [...] Jeglichem, was geschieht, liegt [...] ein Theil ausser dem Kreis unmittelbarer Wahrnehmung. Fehlt dem Geschichtsschreiber jene Freiheit der Ansicht, so erkennt er die Begebenheiten nicht in ihrem Umfang, und ihrer Tiefe; mangelt ihm die schonende Zartheit, so verletzt er ihre einfache und lebendige Wahrheit.“ Die einzelnen Porträts Werfen wir nun also einige selektierende Blicke auf Zweigs konkrete biographische Praxis. Was sind die Ergebnisse seiner Untersuchungen? Es ist hier klarerweise nicht die Zeit, den neun Porträt-Versuchen Zweigs im Detail nachzugehen. Dazu brauchte es weit mehr Einzeluntersuchungen, als es sie heute schon gibt — nur für einige Porträts liegen solche bereits vor.” Zur ersten Trilogie: Mit Blick auf die „Typen der epischen Weltgestalter“ Balzac, Dickens und Dostojewski fallen folgende Aspekte besonders ins Auge: Zweigs umfangreichster und komplexester Text gilt Dostojewski, an dem er — wie auch zu den beiden anderen (Balzac, Dickens) — seit vor dem Krieg gearbeitet hat. Analog zu jenem zu Balzac schlagt er jenen Feier- und Wahrheitsverkiindigungston an, der zu berechtigter stilistischer Kritik, aber auch ideologiekritischen Äußerungen anregte. Auch Hermann Hesse und Thomas Mann schreiben etwa zur selben Zeit tiber Dostojewski. Dickens hingegen ist eine Ausnahme: Für den mit einem gerüttelt Maß von anti-englischen Klischees hantierenden Stefan Zweig ist Dickens „das Symbol des bourgeoisen“ (S. 58) England „zwischen den Napoleonskriegen und dem Imperialismus“ (84). Dickens wird als ‚streichelnder‘ und ‚krauender‘ (S. 59) „loyaler Untertan“ (S. 58) einer „satten Nation“ (S. 60) betrachtet, eines von Kindheit auf verschüchterten, aber den Herrschenden „eine rührende Pietät“ [...] bewahrenden Genies der Anpassung. Ein solcher bringe „Kunst [hervor], die das Herz wärmt wie Tee, nicht eine, die freudig und lodernd berauschen will“, eine Kunst, die „nie die Wurzel, die innerste Ursache [des sozialen Unrechts] aufgraben und zerstören“ will. Zuerst weicht Zweig von seinem ansonsten gepflegten Hauptfokus ab, den Künstler selbst und seine Verfahrensweisen in den Mittelpunkt zu stellen, indem er Dickens als atemberaubend erfolgreiches und bewundertes LeserInnen-Phänomen umktreist. Schließlich aber bedient er sich der Ironie und des Sarkasmus, auch wenn er schließlich, wie Klemens Renoldner erst kürzlich gezeigt hat, die Volte hin zu wohl nur schaler Anerkennung seines Autors schlägt: Erst wenn man aus tiefster Seele die hypokritische Borniertheit der viktorianischen Kultur haft, kann man das Genie eines Menschen mit voller Bewunderung ermessen, der uns diese widerliche Welt der satten Behäbigkeit als interessant und fast liebenswert zu empfinden zwang, der die banalste Prosa des Lebens zu Poesie erlöste. [...] Dickens hat dichterisch die Idylle Englands geschaffen — das ist sein Werk. Achten wir dieses Leise, das Zufriedene nicht zu gering gegenüber dem Gewaltigen: auch die Idylie ist ein Ewiges, eine uralte Wiederkehr. (S. 61, 84) Ohne explizite und implizite Anleihen bei einschlägigen Arbeiten etwa von Hugo von Hofmannsthal („Balzac“, 1908), von Hippolyte Taine und Dmitri Sergejevitsch Mereschkowski (z.B. „lolstoi und Dostojewski als Menschen und als Künstler. Eine kritische Würdigung ihres Lebens und Schaffens“, Leipzig 1903) kommt Zweig nicht aus. Das eigentlich erschreckende Wort für Balzac vom „Napoleon der französischen Literatur“ ist bereits ein geflügeltes geworden. Allerdings bleibt auch hier das im engeren Sinne Lebensgeschichtliche und Historiographische fast ganz ausgespart, aber nun ist Zweig ganz bei sich und kann sich an seinen Persönlichkeiten als Außergewöhnlichkeiten ehrfürchtig und bewundernd berauschen —an den beiden „Unergründlichen“ („Anmerkungen zu Balzac“ 1906). Balzac wird als dämonisch getriebenes, pathogennahes „halluzinativ überhitztes Gehirn“ (Ebd.) und Arbeitstier modelliert, als ein monoman, ja orgiastisch-surrogathaft schreibender „Don Juan du verbe [Don Juan des Wortes]“. Dieser habe enzyklopädische Kenntnisse besessen. Balzacs Figuren aus allen Gesellschaftsschichten und Berufen sind in seiner „Come&die humaine“ versammelt, auch in anderen seiner Werkserien. So wie Carl von Linné (17071778) oder ein Chemiker auf ihren Forschungsgebieten destilliere Balzac typisierte ,,Extrakte“ — Widerspiegelungen einer Epoche der Gier, Macht- und Geldlust, „Monomanen der Leidenschaft“ für alles Mögliche (S. 28), wie Balzac selbst einer gewesen sei. Dieser Autor sei, so wie seinen Figuren, Nihilisten, Arrivisten und Opportunisten, Altruisten, Materialisten usf., abzulesen sei, als solcher selbst zu entdecken — gewissermaßen ein postmodernes Hybrid, also simultan das eine und das andere. Balzacs gigantisches Werk sei — erneut Hippolyte Taine zitierend — „das größte Magazin menschlicher Dokumente“ (S. 45), das immer nur eines zeigen würde: das „Gesetz der Unerbittlichkeit“ (S. 21£.) auf dem sozialen Schlachtfeld. Es ist wie ein Auffressen — „wie die Spinnen in einem Topf“ (S. 22). Zweig behauptet — und führt damit das Bild, das Taine vom Autor gezeichnet hatte, über Balzac fort. Dieser und seine literarischen Figuren würden die besten Belege für das von „race, milieu et temps“ determinierte „universelle Bedingtsein von In- und Umwelt“ (S. 24) darstellen. Sowohl in der Balzac-, als auch in der Dostojewski-DaimonWesensschau, wie auch in anderen Porträts, spielt die damals beliebte, aber auch ideologisch ausbeutbare und prekäre Physiognomik eine wichtige Rolle - als damals offenbar wissenschaftlich anerkannte Methode der Charakteranalyse.” Am Dostojewski-Porträt ist das Erstaunlichste, wie es Zweig schafft und mit sich vereinbaren kann, alles Aberwitzige und Ungeheuerliche, das er an diesem Mann festhält, in sein eigenes „dämonisches“ Genie- und Lebens-Konzept zu integrieren und damit zu relativieren bzw. beschönigen. Denn Dostojewski ist für Zweig nicht nur eine Hiob-Figur, eine masochistisch funktionierende Vitalfigur oder auch der „Gläubigste aller und der äußerste Atheist in einer Seele“ (S. 197), oder — ausgestattet mit allen Zweigschen Superlativen — der in die tiefsten Tiefen der Psyche vordringende Psychologe aller Psychologen (S. 182£.) oder ein Gottgequälter und erlösungsgieriger Sisyphus (vgl. das Kapitel November 2018 35