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„Die Gottesqual“), sondern auch der Mann eines grotesken „messianischen Traums“ (S. 202) eines „neue[n] Russland[s]“ als dem „Dritten Reich“ (S. 201): Bald ist Rußland Christus, bald Gott, bald das Reich Peters des Großen, bald das neue Rom, die Vereinigung des Geistes und der Macht, Tiara und Kaiserkrone, seine Hauptstadt bald Moskau, bald Konstantinopel, bald das neue Jerusalem. Die demütigsten allmenschlichsten Ideale wechseln brüsk mit machtgierigen slawophilen Eroberungsgelüsten, politische Horoskope von verblüffender Treffsicherheit mit phantastischen apokalyptischen Verheißungen. [...] Der Dämonische in ihm, der rasende Übertreiber, in ein Maf gezwungen sonst in seinen Romanen, hier lebt er sich aus in pythischen Krämpfen: mit der ganzen Inbrunst seiner glühenden Leidenschaft predigt er Ruflland als das Heil der Welt, die alleinmachende Seligkeit. Nie ward eine Nationalidee hochmütiger, genialer, werbender, verführender, berauschender, ekstatischer Europa als Weltidee verkündet, als die russische in den Büchern Dostojewskis. (S. 203) Zwar scheint Zweig erheblich irritiert, ja entsetzt angesichts von Dostojewskis „dämonischen Zornausbrüchen“, „pythischen Krämpfen“ und den Inhalten seiner „russischen Erlösungsbotschaft“ — „antieuropäisch, asiatisch, mongolisch, tatarisch [...], ungeistig, byzantinisch“ (S. 201) —, aber das gehöre eben zum „Unorganischen“ einer solchen Persönlichkeit dazu. Zweigs,küchenpsychologische‘ Exkulpation des geistigen und sprachlichen Amokläufers und Exorzistens, wie er Dostojewski beurteilt, lautet: Aus dem Nein zu sich selbst schafft er das Ja, das leidenschaftliche zur neuen Menschheit. Bis ins Körperliche hinein setzt sich diese beispiellose moralische Verurteilung seines Selbst zugunsten des zukünftigen Wesens fort, die Vernichtung des Ichmenschen um des Allmenschen willen. (S. 205) Und dies angesichts folgender Einsichten Zweigs: Bis zum Irrwitz schäumt seine moskowitische Unduldsamkeit. Europa, was ist es? Ein Kirchhof, mit teuern Gräbern vielleicht, aber jetzt stinkend von Fäulnis, nicht einmal Dünger mehr für die neue Saat. Die blüht einzig aus russischer Erde. Die Franzosen — eitle Laffen, die Deutschen — ein niedriges Wurstmachervolk, die Engländer — Krämer der Vernünfielei, die Juden — stinkender Hochmut. Der Katholizismus — eine Teufelslehre, eine Verhöhnung Christi, der Protestantismus — ein vernünftlerischer Staatsglaube, alles Hohnbilder des einzig wahren Gottesglaubens: der russischen Kirche. Der Papst — der Satan in der Tiara, unsere Städte — Babylon, die große Hure der Apokalypse, unsere Wissenschaft — ein eitles Blendwerk, Demokratie —die dünne Brühe weicher Gehirne, Revolution — ein loses Bubenstück von Narren und Genarrten, Pazifismus — ein Altweibergeschwätz. Alle Ideen Europas ein verblühter, verwelkter Blumenstrauß, gut genug, in die Jauche geschmissen zu werden. Nur die russische Idee ist die einzig wahre, einzig grofse, einzig richtige. Im Amoklauf stürmt der rasende Übertreiber weiter, jeden Einwand mit dem Dolche niederstofsend [...]. (S. 200) Das ist zwar keine schlecht geschriebene Prosa. Aber es ist schwierig, jene Verführung nachzuvollzichen, die Zweig veranlasst, ein paar Seiten später seine Dostojewski-“Biografie“ in dem folgenden Hymnus auf das Leben austönen zu lassen. Man kann vielleicht gerade noch in Rechnung stellen, dass er sein Dämon-Konzept auf keinen Fall aufgeben wollte: O Leben, wunderbares, das du dir mit wissendem Willen Märtyrer schaffst, auf daß sie dir lobsingen, o Leben, weisegrausames, das du die Größen dir hörig machst mit Leiden, damit sie deinen Triumph verkünden! Den ewigen Schrei Hiobs, der durch die Jahrtausende 36 ZWISCHENWELT tönt, da er in der Plage Gott erkennt, immer willst du ihn wieder hören und der Männer Daniels Jubelgesang, indes ihr Leib im feurigen Ofen brennt. Ewig entzündest du ihn, klingende Kohle, auf der Zunge der Dichter, die du zu Leidenden machst, auf daß sie dir hörig werden und dich nennen in Liebe! Beethoven schlägst du im Sinne der Musik, daß der Ertaubte das Brausen Gottes höre und, vom Tode berührt, dir die Hymne der Freude dichte, Rembrandt jagst du ins Dunkel der Armut, daß er Licht, dein Urlicht, in Farben sich suche, Dante verjagst du vom Vaterland, daß er Hölle und Himmel im Traum erschaue, alle hast du mit deinen Geißeln gejagt in deine Unendlichkeit. Und diesen, den du wie keinen gegeifelt, auch ihn hast du dir gezwungen zum Knechte, und siehe, von schäumender Lippe, hinfallend in Krämpfen jauchzt er dir Hosianna zu, das heilige Hosianna, das „durch alle Fegefeuer der Zweifelgegangen“. O wie siegst du in den Menschen, die du leiden läßt, aus Nacht machst du Tag, aus Leiden die Liebe, aus der Hölle holst du dir heiligen Lobgesang. Denn der Leidendste ist der Wissendste aller, und wer um dich weiß, muß dich segnen: und dieser, der dich zutiefst erkannte, siehe, er hat dich wie keiner bezeugt, er hat dich wie keiner geliebt! (S. 211£.) Im April 1923 kündigt Zweig seinem Freund Rolland seine zweite Trilogie „über die drei typischen Charaktere in Deutschland: die drei dämonischen Naturen“ an, „die einzigen, die nicht mit der Gesellschaft, der Nation, der Epoche paktiert haben, und die natürlich zerstört worden sind: Hölderlin, Kleist, Nietzsche. Es wird ein Appell an die Künstlerfreiheit, an das Heldenhafte des Leidens, eine große Paraphrase auf den Dämon. Ich fürchte, daß ich in manchen Teilen das deutsche Publikum verletze (oder vielmehr fürchte ich es nicht), vor allem wenn ich darlege, daß Goethe und alle nach ihm lieber den Dämon in sich erwürgt haben, anstatt sich von ihm erwürgen zu lassen.“ (Brief an R. Rolland, 7.4.1923, Briefe II, 434). In Zweigs Vorstellungsraum vom Dämonischen - eng verbunden mit dem Diskurs über ein gefährdetes, sich selbst dem „Dämon“ gegenüber als willenlos empfindendes Kiinstlertum™ — spielen einige basale Koordinaten eine tragende Rolle: Das Dämonische wird in einer quasi-religiösen und esoterisch-romantizistischen Tradition als „immanente Substanz des Menschlichen und durchaus innen im Kreise der Natur“ verstanden. In außer-gewöhnlichen, „produktiven“ Exemplaren der menschlichen Gattung öfter und intensiver als bei „mittleren Menschen“ (bei ihnen nur in den Phasen der Pubertät, der Liebe und im Akt der Zeugung) werde es virulent. Der „Dämon“ bzw. das „Dämonische“ sei, so die Spekulation, als Naturmacht „Teil unseres Selbst“ und bedeute lebendige „Spannung und Steigerung“ des Lebens. Dieser schlage „plötzlich“ in den letztlich selbst-zerstörerischen „faustischen Drang“ um und bleibe unbändigbar.” Zweig denkt nicht nur in naturhaft-kosmologischen, sondern auch in biologisch-systematischen (phylogenetischen sowie ontogenetischen) Kategorien und analogisiert gleichzeitig mit dem Wirken der Geschichte. Zweig denkt auf einer gleitenden Skala, auf der Begriffe wie Ruhe versus Unruhe, willensstarke Bändigung versus Willenlosigkeit, lebendige Spannung versus zerstörerische Überspannung, Maß versus Übermaß, „bürgerlich banale Existenz“ und „Ordnung, Norm, Form und Gesetz“ versus Entgrenzung und Bindungslosigkeit jeglicher Art” eine erkenntnisleitende und letztlich klassifizierende Rolle spielen. Auch Nietzsches Vorstellungen des „Apollinischen“ und „Dionysischen“ werden als Denkfiguren eingesetzt. Inmitten ist immer der vorbildliche, der totale Mensch, nämlich Goethe, gefährdet und sich selbst bändigend. Zweig bedient sich einer