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großen Anzahl von tradierten Metaphern aus unterschiedlichen Diskursen (z.B. aus antik-mythischen, naturphilosophischkosmologischen, bewusstseins-philosophischen, biologischen, meteorologischen und erdkundlichen Sprechweisen) und setzt sie in seinen Charakterisierungen simultan und überlappend ein. Er spricht von den „hundert Gleichnissen“”, dieman auf diesem Gebiet verwenden könne, um sich dem „Dämonischen“ als Natur-, Existenz-, Geschichts- und Lebensphänomen anzunähern, es zu umkreisen — reiner Eklektizismus: Nichts nun ist diesen Gequälten, Gejagten, Getriebenen, den vom Dämon durch die Welt Gerissenen fremder, als der Wirklichkeit solch hohen Wert oder überhaupt irgendeinen zu geben: sie kennen nur die Unendlichkeit, und als einzigen Weg, sie zu erreichen, die Kunst. Darum stellen sie die Kunst über das Leben, die Dichtung über die Realität, sie hämmern sich wie Michelangelo durch die tausend Steinblöcke blindwütig, finster-glühend, in immer fanatischerer Leidenschaft durch den dunklen Stollen ihres Daseins dem funkelnden Gestein entgegen, das sie tief unten in ihren Träumen fühlen, indes Goethe (wie Leonardo) die Kunst nur als einen Teil, als eine der tausend schönen Formen des Lebens fühlt, die ihm teuer ist wie die Wissenschaft, wie die Philosophie, aber doch nur Teil, ein kleiner wirkender Teil seines Lebens. Darum werden die Formen der Dämonischen immer intensiver, jene Goethes immer extensiver.” Zweig hat auch versucht, unterschiedliche Kunst-Formen als Ergebnisse der Wirkkräfte des „Dämonischen“ zu beschreiben. Er kommt dabei aber nicht über asymptotische Annäherungen und unklare Klassifizierungen hinaus — dämonisch gespeiste „Rauschkunst“ versus „kristallinische, durchleuchtende Formen“: „Denn wenn der Dämon selbstherrlich in einem Dichter waltet, ersteht in Hammenhaft aufschießender Steigerung auch ein besonderer Typus der Kunst: Rauschkunst, exaltiertes, fieberhaftes Schaffen, spasmische, überwallende Aufschwünge des Geistes, Kampf und Explosion, Orgiasmus und Trunkenheit, die ... der Griechen, die heilige Raserei, die sonst nur dem Prophetischen, dem Pythischen innewohnt. Das Maßlose, das Superlativistische ist immer das erste untrügbare Merkzeichen dieser Kunst, das ewige Sichüberbieten-Wollen in ein Letztes hinein, in jene Unendlichkeit, der das Dämonische als in seine urweltliche Natur heimatlich entgegendrängt.“” Insbesondere das Verhältnis zum Tod wird zum Thema. Die „Goethesche Lebenserfüllung und der Dämonischen schöpferischer Untergang“ seien zwei Seiten einer Medaille. Also: Hölderlin, Kleist und Nietzsche und viele andere versus Goethe. Originell ist solches nun nicht gerade, sondern zeitgeistiges Reden, wie es in der expressionistischen Generation nicht unüblich war, hatte man diese Gegensätze gerade wieder einmal entdeckt. „[...] das Originelle an Zweigs Konstruktion ist nicht die Erkenntnis solcher Polaritäten, die sind, wie gesagt, Gemeinplatz, sondern der spezifische Gebrauch, den er von dieser Konstruktion macht.“ °' Zweigs drei Untersuchungen sind hauptsächlich spekulative Erkundungsreisen „in das innerste Geklüft, wo [bei Hölderlin, Kleist und Nietzsche K.M.] der Dämon haust.““ Zweig will „keine philologische[n] Biografieln]“ verfassen und sich auch nicht „übermäßig mit Büchern“, etwa mit dem damaligen Stand der Forschung, „belasten“, wie er dem Insel-Lektor Fritz Adolf Hünich (1885 — 1964) mitteilt. Dennoch hat er die zeitgenössische Forschungslage zur Kenntnis genommen und seine Thesen danach ausgerichtet.” Die akzentuierten Leitbegriffe, mit denen Zweig seine drei Essays fundamentiert, lauten folgendermaßen: Bei Hölderlin sind es „Idealität“ und „Heiligkeit“ als letztlich tragisch selbstzerstorerische Schutzschilder gegen das „Kleinliche und Barbarische der Welt“. Bei Kleist sind es hauptsächlich die Begriffe „Unmaß“ und „Zwang“ — gerichtet gegen die herrschende Moral und die vereinbarte „Wahrheit“. Bei Nietzsche, dem „Don Juan der Erkenntnis“, dem „Nimrod des Geistes“ und „Störenfried aller ‚braunen Ruhe‘, ist es schließlich „Nomadentum“ und unentwegte „Verwandlung“. Sie dürften in der bekannten Decadence-Formel der Jahrhundertwende vom Heroismus der Lebensschwäche, des überhöhenden „tragischen Untergangsgefühls“, des „schaurigschönen Hangen[s] über dem Abgrund“ oder des „heilige[n] Leidles] „ihren gemeinsamen Fluchtpunkt haben.“ Schließlich: Zweigs Reflexionen zum Autobiographischen, wie er sie im Vorwort zu seiner dritten „Baumeister“- Trilogie „Drei Dichter ihres Lebens“ (Ostern 1928) präsentiert, sind sehr bemerkenswert. Denn er schreibt de facto eine kleine Geschichte des Genres der Autobiographie seit dem 18./19. Jahrhundert. Diesmal wertet er klar: „Selbstdarstellung“ in „drei aufsteigende[n] Stufen“. „Ein Band über die großen Psychologen“ sollte es werden, so berichtet er Rolland: „Stendhal als erster, mit der Ihese, daß die Psychologie letzten Endes eine Sache des Mutes ist, Mut, das Wahre zu schen und auszusprechen. [...] und nur wenige Menschen sind bisher weit genug die Leiter bis in die Untiefen des Herzens hinabgestiegen (man kann sich den Hals brechen, wenn man nicht schwindelfrei ist). Das alles formt sich schon lange in mir, aber ich habe es nicht eilig.“ Casanova steht für die unbefangene „naive Selbstdarstellung“ (S. 10f.). Gerade wegen dessen radikaler „Philosophie der Oberflächlichkeit“ (S. 50) entpuppt sich Casanovas Leistung als „historischer Baedeker“, als ein „Cortigiano des 18. Jahrhunderts und eine amiisante Chronique scandaleuse, ein [...] vollkommener Querschnitt durch den Alltag eines Weltalters“ (S. 96ff.). Stendhal, die zweite Wertstufe, steht für die „psychologische“ Selbstdarstellung, bei der ein Ich über die zunehmend penible, „schamlose“, ent-automatisierte Eigenbeobachtung sich selbst wertzuschätzen lernt, seine „Sonderheit“, „Selbstischheit“, den egotism entdeckt — „gegen alle Rudel und Rotten kein Zollbreit Eigenheit und Eigenwilligkeit preisgebend“. (S. 154) Stendhal wird zum Ödipus-Seelenforscher avant la lettre erklärt. Schließlich schreibt Zweig dem späten Tolstoi — überraschend — eine noch höhere Stufe des autobiographischen Schreibens zu, nämlich die „ethisch-religiöse Selbstdarstellung“. In ihr werde nun „ein neues Element der Selbstschau, nämlich das unerbittliche Auge des Gewissens“ (S. 10f.), installiert. Die moderne Autobiographieforschung macht ähnliche Stufen aus. Es ist hier kein Platz und keine Zeit, all die Zweigschen Erkenntnisse seiner Porträts über die Autobiographiker aufzulisten — meist psychologische, aber auch zivilisationsgeschichtlich und soziologisch interessante —, auch nicht, all die verdeckten selbstbezüglichen Anspielungen Zweigs aufzuzählen. Aber ertragreich schiene es dennoch, den verhüllten, also vielleicht den ersehnten, auch den ihm bedrohlich erscheinenden Anteiles seines Selbst nachzugehen, dem Selbstbezüglichen und Selbstbespiegelnden eines Schriftstellers, der ausgesprochen scheu mit seinem „Urgeheim“®” „letzten Sein““® umzugehen wusste. Zweig weiß ausgesprochen gut über die „Freude an der Selbstbespiegelung““” Bescheid. So ‚seinem November 2018 37